Warum Mathematik glücklich macht: 151 verblüffende Geschichten (German Edition)
wenig von ihrem Zauber verloren haben. Auch das bestätigt die eingangs angesprochene Studie der Wissenschaftler von der St.-Andrews-Universität. Sie konnten zeigen, dass sich die empfundene Schönheit der gemorphten Durchschnittsgesichter noch steigern ließ, wenn sie winzige Symmetriebrüche und andere geringfügige Unregelmäßigkeiten in das Durchschnittsgesicht einbauten, etwa einen Leberfleck, eine kleine Narbe und Ähnliches. Die Ergebnisse der St.-Andrews-Studie scheinen einander zu widersprechen. Es waltet eben eine eigentümliche Dialektik um das Schöne im Leben. Die Synthese lautet wohl: Schönheit ist Durchschnittlichkeit plus Symmetrie plus geringe, aber markante Abweichung. So ist auch der Faktor Individualität im Schönheitsbegriff mitenthalten.
Symmetrie und Symmetriebrechung
links steht links
rechts steht links
rechts steht rechts
links steht rechts
Die Schönheit und das Andere der Schönheit. Hat man das erkannt, ist man bei einer Einsicht angekommen, die Immanuel Kant bereits vor 230 Jahren vertraut war, als er schrieb: «Das Mittelmaß scheint das Grundmaß und die Basis der Schönheit, aber noch lange nicht die Schönheit selbst zu sein, weil zu dieser etwas Charakteristisches erfordert wird.»
Der Reiz des Imperfekten
Wabi-Sabi ist eine ästhetische Sichtweise, die aus Japan stammt und vom Zen-Buddhismus beeinflusst ist. Es ist keine philosophische Strömung und keine Stilrichtung, sondern eine Haltung, die Welt zu sehen, welche die Anmut des geringfügig Unperfekten, Unvollständigen, Unbeständigen, Unabgeschlossenen beinhaltet. Wabi-Sabi ist der Kern des japanischen Schönheitsideals und nimmt damit eine analoge Stellung ein wie die auf Symmetrie, Perfektion, Vollständigkeit beruhenden ästhetischen Werte im antiken Griechenland.
Berühmte Beispiele für Dinge mit Wabi-Sabi-Qualität sind Cindy Crawfords Muttermal und Lauren Huttons Zahnlücke. Auch eine leicht schiefe Tasse, ein geringfügig berosteter Kessel und eine Schale mit kleinem Sprung haben Wabi-Sabi-Patina.
Eine charmante und instruktive Geschichte handelt von dem Zen-Mönch Sen no Rikyu, der den Weg des Tees lernen wollte und daher den berühmten Teemeister Takeno Joo aufsuchte. «Der Meister befahl Rikyu, den Garten zu säubern. Rikyu machte sich sofort eifrig an die Arbeit. Er rechte den Garten, bis der Boden in perfekter Ordnung war. Als er fertig war, betrachtete er seine Arbeit. Dann schüttelte er den Kirschbaum, so dass ein paar Blüten wie zufällig zu Boden fielen. Der Teemeister Joo nahm Rikyu daraufhin in seine Schule auf.»
90. Mathematik: Nachhaltige Vergnügen in zeitlosen Spielformen
Das Empfinden von etwas Schönem ist fundamental mit dem Gefühl des Wohlgefallens verbunden. Als Grundvoraussetzung für ein ästhetisches Erlebnis benötigt man mithin etwas, das die Sinne, das Herz oder den Verstand in positiver Weise berührt: ein formvollendetes Bauwerk, eine betörende Symphonie, einen farbenprächtigen Sonnenuntergang, ein sympathisches Gesicht, eine ausgefeilte Gedankenkonstruktion.
Es ist vergleichsweise leicht, Schönheit über die Sinne zu erfahren. Um intellektuelle Schönheit zu spüren, bedarf es hingegen als Grundvoraussetzung einer Schulung des Geistes. Das betrifft auch die Mathematik, deren ästhetische Qualitäten ganz voraussetzungslos nicht erlebt werden können. Zwar ist Mathematisieren die Vollzugsform von Sachlichkeit, doch die dabei eingesetzten Ideen können in reichem Maße Tiefe, Virtuosität und Ästhetik ausstrahlen. Zudem ist die intellektuell empfundene Schönheit nicht weniger intensiv als die sinnlich verspürte. Um an diese letzte Aussage sogleich noch eine weitere anzuknüpfen: Ein wichtiger Grund, sich mit Mathematik zu befassen, besteht in der dabei spürbaren Schönheit.
Etwas Anschauungsmaterial soll diese Behauptungen unterstreichen.
Bekanntlich ist die Wurzel aus 2 diejenige positive Zahl, die mit sich selbst multipliziert 2 ergibt. Visualisieren lässt sie sich als Länge d der Diagonalen im Quadrat mit Seitenlänge 1, was man mit dem Satz des Pythagoras sofort prüfen kann: d 2 = 1 2 + 1 2 = 2.
Aber was ist das für eine Zahl? Auch Hippasos von Metapont stellte sich schon im frühen 5. Jahrhundert vor Christus diese Frage. Er war einer der Pythagoreer. Die ganzen Zahlen hatten für die Pythagoreer eine fast mythische Bedeutung, gingen sie doch davon aus, dass alle Phänomene durch ganze Zahlen oder Quotienten ganzer Zahlen ausgedrückt werden konnten. Alle! Auch
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