Warum so scheu, MyLady
Zimmer schien, war es später Nachmittag.
Lady Coleridge saß am Fenster und las. Nach einer Weile hob sie den Kopf und begegnete Sarahs Blick. Lächelnd legte sie ihr Buch beiseite, stand auf und ging zu ihr. “Ah, meine Liebe, freut mich, dass Sie wach sind. Haben Sie starke Schmerzen?”
“So schlimm ist es nicht.” Sarah wollte kein Laudanum mehr nehmen.
“Das will ich hoffen. Wir alle haben uns große Sorgen um Sie gemacht. Da draußen wartet übrigens jemand, der Sie sehen möchte. Ihr Bruder.”
“Nicholas?”
“Ja. Zurzeit wohnt er in Harrowood. Sobald er von Ihrem Unfall hörte, ritt er hierher. Heute Abend wird er mit uns essen. Und vorher will er Sie besuchen.”
Nicholas würde auf Ravensheed dinieren? Wie sonderbar …
Aufgeregt betrat er Sarahs Schlafzimmer und eilte zu ihrem Bett. “Wieso bist du die Treppe hinabgestürzt? Konnte Huntington nicht besser auf dich aufpassen?”
“O Nicholas, daran ist er wirklich nicht schuld. Warum bist du hier?”
“Weil ich zu Filbys Hausparty eingeladen wurde, und Harrowood liegt ganz in der Nähe. Erstaunlich, dass dein Mann mir nicht die Tür gewiesen hat … Also, was ist passiert, Sarah? Bist du gestolpert?”
“Allem Anschein nach …” Es war so schnell geschehen. Plötzlich kehrte die Erinnerung zurück. “Ich glaube, jemand hat mich gestoßen.”
Devon ging zum Sideboard. “Brandy?”, fragte er seinen Schwager. Sie hatten früh zu Abend gegessen. Nun ließen Jessica und Lady Coleridge die beiden Männer allein, deren gemeinsame Sorge um Sarah einen erzwungenen Waffenstillstand bewirkte. Aber Nicholas verhehlte nicht, dass er lieber woanders wäre.
“Ja, bitte.” Unbehaglich lehnte er sich in seinem Sessel zurück.
Devon füllte zwei Gläser und reichte ihm eins. Dann nahm er Nicholas gegenüber Platz. “Was wolltest du mir sagen?”
Bevor Nicholas antwortete, nahm er einen großen Schluck. “Sarah behauptet, sie sei die Treppe hinabgestoßen worden.”
Eine eisige Hand schien Devons Herz zu umklammern. “Von wem?”
“Das weiß sie nicht. Als sie einen Etagenabsatz erreichte, glaubte sie, Schritte hinter einer Tür zu hören. Dann schlug etwas gegen ihren Rücken. Leider hat sie den Angreifer nicht gesehen. Kannst du dir vorstellen, wer ihr nach dem Leben trachtet?”
“Als Jessica Hilfe holte, blieb die Haustür offen. Da muss jemand eingedrungen und die Turmtreppe hinaufgeschlichen sein.” Devon stand auf und trat ans Fenster. “Nach meiner Ansicht gibt es nur eine einzige Person, die Sarah schaden möchte.”
“Cedric Blanton.”
Verblüfft drehte sich Devon um. “Wieso weißt du das?”
“Vor einer Woche traf ich ihn auf einem Ball im Monteville House. Nachdem er mir mitgeteilt hatte, er sei zu Filbys Hausparty eingeladen, deutete er an, du wärst auf der Henslowe-Verlobungsparty über meine Schwester hergefallen. Ich bat meinen Großvater, mit der Wahrheit herauszurücken. Und da befahl er mir, einige Nächte unter Filbys Dach zu verbringen.” Er leerte sein Glas und stellte es auf den Tisch. “Leider kam ich zu spät.”
“Nein, verdammt!
Ich
hätte Sarah beschützen müssen – und ihr nicht erlauben dürfen, allein die Treppe hinabzusteigen. Wir hatten einige Probleme, und sie war ziemlich aufgeregt. Als ich sie reglos am Boden liegen sah, dachte ich schon, ich hätte sie verloren. Es war schrecklich …” Bis ans Ende seiner Tage würde ihn diese Erinnerung verfolgen.
“Also scheint sie dir etwas zu bedeuten.”
“O ja. Sobald es erwiesen ist, dass Blanton den Anschlag auf Sarah verübt hat, wird er den Tag bereuen, an dem er mich zum ersten Mal sah.”
“Huntington, ich glaube, es gibt doch einiges, was uns verbindet.”
Seufzend schloss Sarah ihr Buch. Sie lag auf einem Sofa, das die Lakaien an ein Fenster des Salons gerückt hatten, und blickte in den Park.
Seit ihrem Sturz war eine Woche vergangen, und es gefiel ihr nicht, ihre Tage im Bett oder auf dem Sofa zu verbringen. Trotz zahlreicher Besucher – Lady Coleridge, Mrs. Kenton, Caroline und Nicholas – langweilte sie sich. Obwohl nur ihr linkes Handgelenk verletzt war, fiel ihr das Malen und Zeichnen schwer, weil sie den Skizzenblock nicht richtig festhalten konnte. Wenn sie wenigstens durch den Park wandern dürfte … Aber Devon bestand darauf, dass sie Dr. Miltons Anweisungen befolgte und sich schonte.
Jeden Tag kam er zu ihr und erkundigte sich höflich nach ihrem Befinden. Dabei wanderte er rastlos im Zimmer umher und schien
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