Was bleibt: Kerngedanken (German Edition)
bedeutet heute ökumenisches Christsein .
Eine solche ökumenische Kirche der Zukunft dürfte sich gewiss nicht in disparate, unorganisierte Gruppen auflösen. Aber sie wäre trotz ihres auch institutionellen Charakters keine Einheitspartei, kein absolutistisch-religiöses »Imperium Romanum«. Diese ökumenische Kirche der Zukunft würde sich durch mehr Wahrhaftigkeit, Freiheit, Menschlichkeit, durch mehr Weitherzigkeit, Duldsamkeit, Großzügigkeit, mehr christliches Selbstvertrauen, souveräne Gelassenheit und Mut zum Denken und Entscheiden auszeichnen. Eine solche Kirche wäre ihrer Zeit nicht ständig hinterdrein, sondern möglichst voraus: sie könnte Avantgarde einer besseren Menschheit sein.
»Die Hoffnung bewahren« (1990), S. 30 – 36.
4. Kirche – Aufbruch in Freiheit
Manipulation der Wahrheit?
In seinem Buch »Wahrhaftigkeit« (1968) reagiert Hans Küng auf die ersten Zeichen innerkirchlicher Stagnationen und Blockaden. Jetzt musste »der Wecker rasseln«, kommentierte er später. Der Text zeigt einen Streitpunkt, der heute noch aktuell ist: Wie wahrhaftig geht ein katholischer Christ mit den altehrwürdigen Dogmen um?
Diejenige Kirche, die ihre Irrtümer nicht vertuscht, sondern konstruktiv mit ihnen fertig wird, ist, weil wahrhaftig, auch glaubwürdig. Eine wahrhaftigere und damit glaubwürdigere Kirche darf mehr Verständnis, mehr Loyalität, mehr Engagement gerade in bezug auf ihre Lehre, ihre Konfessionen und Definitionen erwarten und verlangen. Doch es bleiben hier Fragen: Kann denn die Unwahrhaftigkeit in der Lehre überhaupt vermieden werden, wenn man sich als Christ und insbesondere als Theologe auf bestimmte Konfessionen und Definitionen seiner Kirche verpflichtet fühlt? Ist bei der Anerkennung von verbindlichen Sprachregelungen der Gemeinschaft überhaupt noch eine kritische Auseinandersetzung möglich? Ist unter solchen Umständen eine Manipulation der Wahrheit nicht unvermeidlich geworden, um das Lehrsystem aufrechtzuerhalten?
Unter Manipulation der Wahrheit versteht man hier: Die Wahrheit wird in den Dienst des Systems gestellt und politisch gehandhabt. Die Worte werden nicht zur Kommunikation, sondern zur Domination verwendet. Die Sprache wird korrumpiert, durch taktische Zweideutigkeit, sachliche Unwahrheit, schiefe Rhetorik und hohles Pathos. Unklares kann somit als klar und Klares als unklar hingestellt werden. Die eigene Position wird hinaufgelobt und der Gegner ohne ernsthafte Begründung abgeurteilt. Die fehlende Kontinuität wird durch Auslassungen und Harmonisierungen beschafft. Das Eingeständnis und die Korrektur von Irrtümern wird strikt vermieden und dafür eine praktische Allwissenheit der Autorität insinuiert. Nicht mehr um unermüdliche Wahrheitssuche geht es, sondern um den trägen, eingebildeten und mit allen Machtmitteln aufrechterhaltenen Wahrheitsbesitz.
Diese Manipulation der Wahrheit grassiert vor allem in den totalitären Systemen, wo die herrschende Partei alle Wahrheit »besitzt«. Viele richten ähnliche Vorwürfe an die katholische Kirche und konstatieren dort öfters, mindestens für die Vergangenheit, auch Konsequenzen einer solchen Wahrheitsmanipulation: freie Diskussion wird verdächtigt, Dissenters werden moralisch disqualifiziert; innerhalb des herrschenden bürokratischen Apparates wird die Wahrheit durch das Machtspiel verschiedener Pressure-Groups politisch ausgehandelt; Geheimhaltung wird gefordert in Dingen, die alle angehen; die Wissenschaft muß folglich dem System dienen; man redet anders privat als öffentlich, redet anders, als man schreibt, flieht aus Angst vor dem Engagement in sturmfreie esoterische Forschungsbereiche und richtet sich im übrigen stillschweigend nach der Parteilinie. So wird den wahren Schwierigkeiten der Zeit ausgewichen, die drängendsten Entscheidungen werden hinausgeschoben. Ängstliches und opportunistisches, aber deshalb nicht gerade skrupelhaftes Prestige-, Macht- und Systemdenken dominiert, nicht Demut und Respekt vor der Wahrheit. Unter diesen Umständen wird die Wahrheit »politisch« gebraucht, verbraucht, mißbraucht, statt wahrhaftig gedacht, geachtet, geliebt, gelebt.
Diese Vorwürfe sind hier nicht im einzelnen zu untersuchen. Werden sie verallgemeinert, sind sie jedenfalls ungerecht. Aber niemand kann übersehen, daß vieles an ihnen richtig ist. Wo Menschen sind, da gibt es auch Mißbrauch der Wahrheit, und wir haben wie überall so auch in der Kirche – und bei uns selbst – energisch
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