Was dein Herz nicht weiß
schaute an sich herab und sah ein grünes Krankenhausnachthemd, das unter der Bettdecke herauslugte. Sie lag auf einem der drei kleinen Betten im Raum.
»Yul … «, murmelte Soo-Ja.
Er trug seine Straßenkleidung und darüber einen Arztkittel. Seine Kleidung wirkte beinahe europäisch. Doch bis auf die Tatsache, dass er sein Haar jetzt länger trug, hatte er sich nicht sehr verändert, seit sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte. Er hatte noch immer dieselben ernsthaften Augen, die Grübchen in den Wangen und den großen, muskulösen Körperbau eines Kämpfers.
»Deine Kleider trocknen am Ofen«, erklärte Yul. »Ich habe die Schwester gebeten, sie zu waschen. Sie bringt sie dir gleich zurück.«
»Ich muss gehen«, sagte Soo-Ja.
»Ich habe gehört, was passiert ist.«
»Wie das?«
»Da draußen ist ein Wartezimmer. Und die Leute reden so einiges.«
Soo-Ja blickte sich um. »Bitte, sag der Schwester, dass sie mir jetzt meine Kleider bringen soll. Ich muss meine Tochter suchen.«
»Bist du schon zur Polizei gegangen?«
»Nein.«
»Dann ist das also das Erste, was wir tun werden.«
Soo-Ja schaute ihn überrascht an. » Wir? Wirst du mir helfen?«
»Ja«, sagte Yul mit Nachdruck.
»Mein Mann wird jeden Augenblick hier sein … Und meine Schwiegereltern auch.«
»Ja, ganz bestimmt«, sagte Yul freundlich.
Soo-Ja atmete tief ein und gab ihre Schauspielerei auf. Sie konnte Yul nicht anlügen – als hätte sie ihm irgendwann einmal geschworen, immer die Wahrheit zu sagen. »Es ist nicht Mins Fehler. Er weiß nichts davon. Er muss sich verstecken. Wir hängen alle mit drin, auch meine Schwiegereltern und ich. Wir haben Schulden.« Soo-Ja war erstaunt, dass sie Yul das so einfach erzählen konnte. Bislang hatte sie niemandem von ihrer Situation erzählt, nicht einmal ihrem eigenen Vater.
»Deswegen brauchst du dich nicht zu schämen. Heutzutage haben eine Menge Leute Schulden. Du hast das ganze Papiergeld in der Hand und plötzlich bestimmt die Regierung, dass es nichts mehr wert ist«, sagte Yul.
Die Krankenschwester hatte ihre Stimmen gehört. Sie brachte Soo-Jas Kleider und verschwand wieder, so schnell wie sie gekommen war. Yul drehte sich um, sodass Soo-Ja sich umziehen konnte.
»Jemand muss Hana doch gesehen haben. Vielleicht finde ich sie nicht auf Anhieb, aber ich kann nach jemandem suchen, der sie gesehen hat. Etwa die Obsthändler. Sie sitzen den ganzen Tag da und beobachten die Leute auf der Straße.« Soo-Ja zog ihre schwarze Strickjacke mit den weißen Zierstreifen an, dann wand sie sich ihren großen braunen Schal um Schultern und Arme. Als sie fertig angezogen war, trat sie zu Yul und berührte ihn leicht am Arm. Erschrocken drehte er sich um und prallte dabei fast gegen sie. Seine plötzliche Nähe verwirrte Soo-Ja wiederum so sehr, dass sie einen Schritt zurückwich. Als sie ihm ins Gesicht sah, bemerkte sie den ernsten Ausdruck in seinen tiefschwarzen Augen. Er hatte sich kaum verändert. Immer noch derselbe Blick, dieselbe Melancholie.
»Wir werden sie finden«, versicherte er ihr.
Soo-Ja glaubte Yul und folgte ihm durch das Wartezimmer, wo sie von vielen Augenpaaren neugierig beäugt wurden, nach draußen. Als sie hinaus auf die Straße ins grelle Sonnenlicht traten, dankte Soo-Ja ihm im Stillen.
Der Stadtpolizist zog an seiner Zigarette und kritzelte halbherzig Hanas Beschreibung in ein handtellergroßes Notizbuch. Hinter ihm zogen ein paar Fischer Netze mit Makrelen, Haarschwänzen, Tintenfisch und Muscheln von ihren Schiffen auf das Dock. Es roch nach Fisch. Kleine Eisschollen, die vom Schnee der letzten Nacht übrig geblieben waren, trieben auf dem Wasser und zerbrachen, sobald sie gegen die Boote stießen. Der Beamte lächelte Soo-Ja auffordernd an. »Tja, wir sind einfach zu beschäftigt. Ich wünschte, wir hätten mehr Möglichkeiten, vielleicht etwas Geld … «
Soo-Ja sah ihn unsicher an, aber Yul verstand seine Andeutung sofort. Er zog ein paar Scheine aus der Tasche und gab sie dem Beamten. Der Mann lächelte und nickte.
»Ich werde sehen, was ich für Sie tun kann«, sagte er und verschwand. Die Art, wie er das sagte, machte deutlich, dass er nichts unternehmen würde. Soo-Ja streckte den Arm aus, wie um ihn aufzuhalten, aber er war schon weg.
»Es tut mir leid«, sagte Yul. »Aber die Einzigen, nach denen die Polizei im Moment eifrig sucht, sind nordkoreanische Spione.«
»Gehen wir zurück auf den Marktplatz«, schlug sie vor. »Ich muss eine Mutter finden. Die
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