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Was der Hund sah

Was der Hund sah

Titel: Was der Hund sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Malcolm Gladwell
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Mammografie entspricht also nicht unseren normalen Erwartungen an ein Bild. In den Tagen vor der Erfindung der Fotografie wurden galoppierende Pferde in der Malerei oft nach der Konvention ventre a terre oder langgestreckt dargestellt. Die Pferde hoben die Vorderhufe weit nach vorn und streckten die Beine nach hinten durch, denn so sah der Galopp nun einmal aus, wenn das Pferd vorüber rannte. Dann machte in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts Eadweard Muybridge seine berühmten Sequenzfotografien eines galoppierenden Pferdes, und ventre a terre gehörte der Vergangenheit an. Nun wussten wir, wie ein Pferd wirklich galoppiert. Die Fotografie versprach, die Wirklichkeit selbst festzuhalten.
    Bei der Mammografie liegt der Fall ein wenig anders. Üblicherweise sprechen wir über Kalkablagerungen und Knoten so, als handele es sich um etwas vollkommen Eindeutiges und Unmissverständliches. Doch das Bild zeigt, wie verschwommen diese Kategorien sein können. Joann Elmore, Arzt und Epidemiologe am Harborview-Krankenhaus der University of Washington bat zehn Radiologen, sich 150 Mammografien anzusehen; 27 der Aufnahmen stammten von Frauen mit Krebs, die übrigen von gesunden Frauen. Einer der Radiologen erkannte auf Anhieb 85 Prozent der Krebsfälle, ein anderer nur 37 Prozent. Einer wollte in 78 Prozent aller Aufnahmen auffälliges Gewebe erkennen. Einer sah »auffällige asymmetrische Verdichtungen« in der Hälfte aller Krebsfälle; ein anderer erkannte auf keinem der Bilder eine »auffällige asymmetrische Verdichtung«. Eine der Mammografien war besonders verwirrend: drei Radiologen hielten sie für normal, zwei für abnormal, aber vermutlich gutartig, vier wollten sich nicht festlegen, und einer erkannte Krebs (die Patientin war gesund). Einige dieser Unterschiede sind zweifelsohne eine Frage der Erfahrung, und es ist bewiesen, dass Radiologen Mammografien umso besser lesen, je strenger ihre Ausbildung und je größer ihre Erfahrung ist. Doch da so vieles auf einer Mammografie in eine Grauzone fällt, ist die Interpretation auch Temperamentssache. Einige Radiologen sehen etwas Unklares und haben kein Problem damit, es als normal zu bezeichnen. Andere entdecken etwas Unklares und schöpfen Verdacht.
    Heißt das, dass man als Radiologe so misstrauisch wie möglich sein sollte? Vielleicht. Doch übertriebene Vorsicht erzeugt wiederum ein anderes Problem. Die Radiologen, die in der Elmore-Studie Krebs diagnostiziert hatten, empfahlen sofortige weiterführende Untersuchungen - Biopsien, Ultraschallaufnahmen oder zusätzliche Röntgenbilder - für 64 Prozent aller Frauen, die gar keinen Krebs hatten. In der wirklichen Welt stößt ein Radiologe, der einer derart großen Zahl von gesunden Frauen die zusätzlichen Belastungen, Kosten, Sorgen und Unannehmlichkeiten weiterer Untersuchungen zumutet, in seiner Zunft auf Probleme. Die Mammografie ist keine Behandlungsmethode, die Ärzten das Recht geben würde, sich heroisch für ihre Patienten einzusetzen. Die Mammografie ist ein Filter , mit dessen Hilfe die Gesunden aussortiert werden sollen, um den Kranken mehr Zeit und Aufmerksamkeit widmen zu können. Wenn ein Filter nicht filtert, hat er keine Berechtigung.
    Gilbert Welch, Ergebnisexperte von der Dartmouth Medical School, verweist darauf, dass bei gleichbleibenden Krebsraten in den kommenden zehn Jahren neun von tausend Frauen im Alter von sechzig Jahren und darüber an Brustkrebs sterben. Wenn sich jede dieser Frauen jedes Jahr einer Mammografie unterziehen würde, dann würde diese Zahl auf sechs zurückgehen. Die Radiologin, die diese tausend Frauen untersucht, müsste also in einem Jahrzehnt zehntausend Aufnahmen analysieren, um drei Frauen zu retten - und das ist großzügig gerechnet. Mit anderen Worten, Radiologen müssen die überwiegende Zahl der unklaren Befunde deshalb als normal ansehen, weil die überwiegende Zahl der unklaren Befunde normal ist . Radiologen befinden sich etwa in derselben Situation wie die Sicherheitsleute an Flughäfen, die Gepäck durchleuchten. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass die dunkle Masse in diesem Koffer keine Bombe ist, weil Sie schon Tausende dunkle Massen in Koffern gesehen haben, die keine Bomben waren. Und wenn Sie jeden Koffer aufmachen wollten, der irgendwie verdächtig aussieht, dann würde niemand seine Maschine erreichen. Aber das heißt natürlich nicht, dass es sich nicht doch um eine Bombe handeln könnte. Sie müssen Ihre Entscheidung aufgrund der

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