Was die Nacht verheißt
schneller und holte ihn ein, als er über die Straße und den Kai entlangging.
»Guten Morgen, Kapitän.« Sie warf ihm ein strahlendes, sonniges Lächeln zu. »Ich sah Euch eben aus dem Wirtshaus kommen und wollte Euch nur noch einmal danken, weil Ihr Euch letzte Nacht in der Schänke so für mich eingesetzt habt.«
Er verlangsamte seine Schritte, sodass sie nicht zu rennen brauchte, um neben ihm hergehen zu können. »Ich versichere Euch, Miss Winters, es war mir ein Vergnügen. Proctor hatte schon seit längerer Zeit Prügel verdient.« Er lächelte ein wenig. Ihr fiel auf, dass sich ein schwacher blauer Fleck auf der Haut über seinen hohen Wangenknochen zeigte.
»Ich dachte, Ihr wäret auf dem Weg nach England, und hätte Euch nicht so bald wieder hier im Hafen erwartet.«
Die schwarzen Augenbrauen über seiner schmalen, geraden Nase zogen sich zusammen. »Wir hatten auf dem Rückweg von Virginia Schwierigkeiten mit dem Ruder. Ich muss es erst ersetzen lassen, bevor wir uns auf den Heimweg machen können.«
Er war so groß, dass sie den Hals recken musste, um zu ihm aufzusehen. Die Sonne glänzte auf seinem welligen schwarzen Haar. Brandy spürte ein seltsames Verlangen, mit den Fingern hindurchzustreichen. »Wenn ich mich richtig erinnere, hattet Ihr das letzte Mal hier im Hafen auch Schwierigkeiten mit dem Schiff.«
Eine Spur von Unbehagen machte seine Stimme rau. »In letzter Zeit scheinen wir ziemliches Pech zu haben. Ich hoffe, dass sich das bald ändert. Inzwischen haben wir eine kurze Fahrt zu den Bahamas eingeplant, eine Ladung Mehl, die wir in Alexandria aufgenommen haben, dazu eine Portion Bauholz und andere Kleinigkeiten. Wir kommen wieder hierher zurück, um neue Ladung aufzunehmen, bevor wir uns auf den Heimweg machen.«
Ihr Puls wurde plötzlich schneller. »Wie lange werdet Ihr fort sein?«
»Wenn alles glatt geht, weniger als einen Monat. Es ist nicht weit zu den Inseln. Wir löschen nur die Ladung und kehren so schnell wie möglich zurück.«
Ihr Puls begann noch schneller zu schlagen, als eine Idee in ihrem Kopf Gestalt annahm. »Ihr fahrt also zu den Bahamas und dann sofort wieder hierher zurück?«
»Genau. Wir hatten zwar nicht vor, diese Fahrt zu machen, aber wir werden gut bezahlt, und bei den Rückschlägen der letzten Zeit können wir das gut gebrauchen.«
»Wann fahrt Ihr ab?«
»Sobald das Ruder repariert ist. Wenn alles gut geht, dürfte das etwa übermorgen sein.«
Sie hatten die Anlegestelle des Schiffs erreicht, und der Kapitän wandte sich ihr zu. »Falls ich Euch nicht noch einmal sehe, bevor die Seehabicht Segel setzt, wünsche ich Euch alles Gute, Miss Winters. Passt gut auf Euch auf.« Als er lächelte, wirkte das wie ein weißes Blitzen vor seiner gebräunten Haut. »Wenn Ihr Glück habt, verlässt die Fairwind Charleston ebenfalls bald.«
Brandy grinste und sah vor ihrem inneren Auge wieder die Faust des Kapitäns auf das Kinn des ersten Maats treffen. »Wenn ich Glück habe, ja.«
Er streckte die Hand aus, berührte ihre Wange und strich ihr sacht übers Haar. »Wie lange kennen wir uns schon, Miss Winters?«
»Gute zehn Jahre, würde ich sagen.« Sie erinnerte sich genau an den Augenblick, als sie ihm zum ersten Mal begegnet war, einem gut aussehenden jungen Leutnant in der Uniform der britischen Marine, der durch die Tür des Wirtshauses trat. Damals war sie kaum mehr als ein Kind gewesen, aber er hatte sie trotzdem fasziniert.
»Ihr werdet langsam erwachsen, Mädel. Bald werdet Ihr einen Ehemann brauchen und sicher auch ein eigenes Heim und eine Familie gründen wollen.«
Brandy schüttelte den Kopf. »Ich will keinen Ehemann -wenigstens noch nicht so bald. Ich will etwas von der Welt sehen, herumkommen. Ich will erst einmal mein eigenes Leben leben, bevor ich mich niederlasse.«
Der Kapitän sah sie mit einem Blick an, der vielleicht eine Spur von Mitleid zum Ausdruck brachte. Er hatte sie diese Worte bestimmt schon ein Dutzend Mal sagen hören. »Unabhängigkeit ist keine leichte Sache für eine Frau.«
»Ich werde es schon schaffen, wartet nur ab.«
Er schaute in den Hafen und zu dem hohen Schiff, dessen riesige Masten leise im Wind schwankten. Eine Möwe kreischte hoch über seinem Kopf. »Ihr seid ein nettes Mädchen, Brandy Ihr verdient, zu bekommen, was immer Ihr Euch wünscht.«
In diesem Augenblick wusste Brandy ganz genau, was sie sich wünschte. Sie wollte mit Marcus Delaine zur See fahren. Sie wollte Abenteuer erleben, die Welt sehen.
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