Was du nicht weißt: Roman (German Edition)
hatte.
Plötzlich wuchsen ihr Flügel, sodass sie immer höher in die Luft aufsteigen konnte, wie um zu fliehen. Doch das Mosaik unter ihr begann sich zu einer ekligen Masse zu verformen, die immer näher kam, Emily umschloss und sie wieder auf den Boden zurückzog. Als sie voller Angst ein kleines Loch im Boden zu vergrößern versuchte, um sich darin zu verstecken, spürte sie plötzlich etwas Weiches in der Erde. Hektisch grub sie weiter und weiter – bis sie Haare, eine Nase und Zähne spürte.
Erneut war es Debbies Gesicht. Und alles begann von vorn. Das Gesicht hatte einen so sanften Blick, dass Emily vor Mitleid anfangen musste zu weinen …
Als sie über diesen merkwürdigen Traum nachgedacht hatte, war es ihr plötzlich wie Schuppen von den Augen gefallen. Er war kein Zufallsprodukt ihres Gehirns, er hatte eine besondere Bedeutung.
Sie war die Einzige, deren perfektes Gedächtnis über zahlreiche Mosaikstücke von ihren Gesprächen mit Debbie Farrow verfügte. Debbie war fast jede Woche bei ihr im Teeladen gewesen, manchmal hatten sie sich auch als Nachbarn auf der Straße oder im Supermarkt getroffen. Fast immer hatte die junge Frau dabei von sich oder von ihrem Kind erzählt.
Ich muss nur anfangen, mich daran zu erinnern, dachte Emily staunend.
Die Erkenntnis traf sie wie ein Blitz.
Jetzt war es ihre Aufgabe, Stück für Stück, Gespräch für Gespräch zu rekonstruieren, was Debbie ihr im Laufe der Zeit über sich selbst anvertraut hatte. Es war vielleicht nicht viel – hier eine Bemerkung, dort eine Erklärung, eine Unsicherheit oder eine Frage … Aber es war genug, um Debbies kurzes Leben besser zu begreifen.
Sie brauchte frische Luft.
Entschlossen öffnete sie die Tür, die von der Küche in den Garten führte, und ging hinaus. Energisch begann sie, mit ihrer Gartenschere zwischen den Hibiskusblüten herumzuwerkeln. Dabei schaute sie auf die Häuser von St. Brelade’s Bay hinunter. Direkt unterhalb ihres Gartens fiel die Felswand steil ab und gab unter dem blauen Himmel einen wunderbaren, fast italienisch anmutenden Blick auf die Küste frei. Überall auf den Dächern und Bäumen unter ihr glitzerte noch der Tau. Wenn sie sich an der Mauer ein Stück vorbeugte, konnte sie unten sogar das Haus sehen, in dem Debbie gewohnt hatte.
Im Flur klingelte das Telefon.
Sie legte ihre Gartenhandschuhe und die Schere auf dem Rand einer bepflanzten Blumenschale ab und eilte erwartungsvoll ins Haus. So früh rief normalerweise nur ihr Sohn aus London an.
Doch es war nur eine Isabel aus dem Büro des Chef de Police, eine, wie sie erfuhr, neue Praktikantin. Sie klang auffallend jung und ein bisschen naiv.
»Mr. Conway lässt Ihnen ausrichten, dass eine Streife heute früh Vikar Ballard aufgefunden hat«, sagte sie mit leichtem Lispeln.
Emily spürte, wie ihr übel wurde. Vorsichtig fragte sie: »Wo hat man ihn entdeckt?«
»In dem alten Auto des kranken Rektors. Auf einem Parkplatz kurz vor dem Dorf Rozel.«
»Und wie … wie hat man ihn vorgefunden?«
»Wenn ich den Chef de Police richtig verstanden habe, war der Vikar wohl in einem schlimmen Zustand.«
»Oh Gott!«, entfuhr es Emily. »Weiß die Polizei denn schon, was passiert ist?«
Lakonisch meinte die Hospitantin: »Er hat offenbar seinen Rausch ausgeschlafen. Jedenfalls sah Mr. Ballard noch ziemlich verkatert aus, als ich ihn vorhin gesehen habe.«
»Er lebt also?«, fragte Emily erleichtert.
Isabel schien die Frage lustig zu finden, denn sie kicherte, während sie sagte: »Ich weiß ja nicht, wie lebend man sich noch fühlt, wenn man so verkatert ist.« Dann schien sie selbst zu merken, wie taktlos ihre Bemerkung war, und fügte kleinlaut hinzu: »Entschuldigung, Mrs. Bloom, das ist mir nur so rausgerutscht …«
»Schon gut … Ist der Vikar noch bei Ihnen, oder ist er schon wieder zu Hause?«
»Unsere Kollegin Sandra Querée hat Mr. Ballard vorhin ins Pfarrhaus gefahren.«
»Dann sagen Sie Mr. Conway vielen Dank für diese Information.«
»Gerne. Und Mrs. Bloom … wegen meiner Bemerkung eben …«
Doch da hatte Emily schon aufgelegt. Kaum hatte sie das getan, bekam sie auch schon ein schlechtes Gewissen, weil sie keinesfalls arrogant wirken wollte. Schließlich war es sehr aufmerksam von Harold gewesen, dass er an sie gedacht hatte.
Wie es dem Vikar jetzt wohl ging? Sie musste unbedingt mit ihm reden.
Plötzlich fiel ihr ein, dass irgendwo im Wohnzimmer das Foto von Debbie liegen musste, das sie gestern im Pfarrhaus heimlich
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