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Was es heißt, in den Krieg zu ziehen

Was es heißt, in den Krieg zu ziehen

Titel: Was es heißt, in den Krieg zu ziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Marlantes
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auszufliegen. In der Schlacht haben Kleinigkeiten mitunter schreckliche Folgen.
    Das Schießen endete, noch ehe ich begriff, was vorging.
    Eine Kompanie von einem anderen Bataillon lag östlich von uns im Kampf mit einer NVA -Einheit unbekannter Größe, die auf jeden Fall aber groß genug war, unseren Leuten Magenschmerzen zu bereiten, als sie mit ihr aneinandergerieten. Wir sollten diese NVA -Einheit von hinten angreifen und ihr gleichzeitig den Weg durch das enge Tal abschneiden. Sie hatten uns gleich unter Feuer genommen, dann aber schnell wieder aufgehört, als sie sahen, dass wir sie bald schon in die Zange nehmen würden. Jetzt bewegten sie sich auf einen unheilvoll wirkenden Grat zu, der sich am nördlichen Horizont entlangzog, dunkel und graugrün im düsteren Licht, von Wolken und Nebel umhangen.
    Durch unsere Feldstecher konnten wir, wann immer der wirbelnde Nebel etwas dünner wurde, Bewegungen und frische Grabungen einer ziemlich großen Einheit erkennen, die sich bereits dort oben befand und durch die zu ihr Hinaufkletternden noch verstärkt wurde. Der Befehl kam, die Situation auszukundschaften. Im ersten Morgenlicht sollte die andere Kompanie gemeinsam mit unserer angreifen. Um das tun zu können, mussten wir uns in der Nacht möglichst weit bis dort hinüberschleichen. Wir ließen alle überflüssige Ausrüstung auf einem ordentlichen Haufen auf dem Dschungelboden zurück und begannen gegen ein Uhr dreißig mit dem Aufstieg.
    Im Krieg braucht man Glück, und wer lange genug dabei ist, wird auch ein paar schlechte Tage haben. Kurz vor Tagesanbruch, als wir noch etwa fünfhundert Meter von den Stellungen der NVA entfernt waren, liefen wir in Sprengfallen, Stolperdrähte, die zu in Brusthöhe an die Bäume gebundenen Minen führten. Die vorausgehenden Späher gerieten in höchste Angst. Wir wechselten sie alle fünf Minuten aus und drangen weiter vor. Dann trafen wir auf einen Horchposten, und es kam zu einem kurzen Feuerwechsel. So viel zu unserem Überraschungsangriff.
    Die andere Kompanie, die sich über einen Ausläufer rechts von uns in die Höhe arbeitete, musste ein paar böse Schläge einstecken. Nach einer dumpfen Explosion hörte ich jemanden schreien. Das Schreien hielt eine volle Minute lang an. Es war eine einsame Stimme, die kilometerweit durch Nebel und Dschungel drang, bis sie abrupt abbrach. Später fand ich heraus, dass es ein Freund von mir aus der Grundausbildung gewesen war. Sein gesamtes Gesicht, der Unterkiefer und ein Bein waren von einer DH - 10 -Richtmine weggerissen worden, die normalerweise gegen Panzer eingesetzt wurde. Der Sergeant seines Zuges war zu ihm gerannt, um zu sehen, warum er so schrie, und hatte die Hand auf das Loch gelegt, in dem noch ein intakter Kehlkopf saß. Am Ende hat er ihm, soweit ich es verstanden habe, die Halsschlagader abgeklemmt, und mein Freund starb bei vollem Bewusstsein.
    Der Chef der anderen Kompanie verlor die Nerven und drang nicht weiter vor. So etwas gibt es auch im Marine Corps. Unsere Kompanie führte den Angriff allein durch.
    Am nächsten Tag nahmen wir auch die zweite Erhebung westlich von uns, konnten aber nicht beide halten, dafür reichten unsere Kräfte nicht aus. Wir sammelten uns auf der ersten Erhebung und wurden nachts von NVA -Pionieren und Bodentruppen angegriffen. Ein weiterer Freund von mir, mit dem ich in die PLC [62] gegangen war, gehörte zu der Kompanie, die nicht weiter vorgerückt war. Auf seinen eigenen Entschluss hin arbeitete er sich mit seinem Zug zu uns hoch und schloss sich uns an. Als sie kamen, standen wir bei der Verteidigung des Hügels vor Gegenangriffen ziemlich unter Druck. Den Großteil unserer Munition hatten wir bei der Eroberung verschossen, und mittlerweile lagen zwei Nächte ohne Schlaf hinter uns. Ich erinnere mich, wie er zusammen mit seinem Sergeant zu den unter Feuer liegenden Löchern vordrang und wiedergutzumachen versuchte, dass sie nicht zusammen mit uns angegriffen hatten. Sie wollten sich als
semper fidelis
erweisen. Was sie taten.
    Statt mit ihnen zu gehen, um sie mit unserer Verteidigungslinie vertraut zu machen, sah ich nur zu und sagte mir, dass ich meinen Hals schon genug riskiert hatte. Dafür schäme ich mich noch immer.
    Mitten in all dem Chaos und Gemetzel, dieser Feigheit und Ehrenhaftigkeit gewann ich meine erste Auszeichnung, einen Bronze Star, und zwar während des ersten Angriffs. Der Zugführer, der mich ersetzt hatte, als ich zum Executive Officer befördert wurde, war

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