Was habe ich getan?
der Wärterin war auf einmal streng, weil sie mit einem verbalen Angriff oder einer lächerlichen Bitte rechnete. Solche Dinge waren auf den nächtlichen Runden die Norm.
Kate hob die linke Hand und hielt sie an das kleine Gitter.
»Ich muss meinen Ehering loswerden. Mein Anwalt hat mir gesagt, dass ich ihn während der Gerichtsverhandlung anlassen soll, aber die ist ja vorüber. Ich hasse es, ihn zu tragen, ehrlich, aber ich bekomme ihn einfach nicht ab. Ich möchte keine weitere Nacht mit dem Ring an meinem Finger verbringen, keine einzige Nacht mehr.«
Kate wollte sich unbedingt des Symbols ihres Elends entledigen. Als ihr der Goldreif an den Finger gesteckt worden war, war sie jung, hoffnungsvoll und voller Lebensfreude gewesen. Die Frau mittleren Alters, die jetzt am dritten Knöchel ihres linken Ringfingers herumzog und herumzerrte, hatte Gelenke und Finger, die von der schweren Arbeit und den Misshandlungen angeschwollen waren. Sie hatte den Eindruck, als wäre mitten in der Nacht ein Zeitdieb dahergekommen und hätte Jahrzehnte ihres Lebens gestohlen. Das war ein grausamer Trick, der allergrausamste.
Sie vergoss viele Tränen.
»Ich möchte den wirklich nicht mehr am Finger haben. Bitte.«
Es war das erste und letzte Mal, dass die Wärterin einen solchen Auftritt von Kate erleben sollte. Er ging ihr nahe, und sie wollte Kate helfen. Nach ein paar Minuten kam sie mit einer Schüssel mit warmem Wasser und einem Stück Seife zurück. Sie schloss die Tür auf und gab die Sachen der freundlichen, zutiefst bekümmerten Frau.
»Vielen Dank. Ich bin Ihnen sehr dankbar.« Kate lächelte sie mit tränennassem Gesicht an.
Sie seifte sich den Finger ein und zerrte und zog so heftig an dem Ring, bis der Finger blutete. Das bestärkte sie nur weiter in ihrem Entschluss. Wieder seifte sie den Finger ein und probierte es erneut. Beim dritten Versuch hatte Kate trotz der Tatsache Erfolg, dass der Finger weiter angeschwollen war, was die Sache noch zusätzlich erschwert hatte. Sie ließ den Ring zusammen mit der Seife in die Wasserschüssel fallen und prüfte die Kerbe, die er an ihrem Finger hinterlassen hatte.
»Was glauben Sie, wie lange wird es dauern, bis die verschwunden ist?«, fragte sie, als die Wärterin auf ihrer nächsten Runde vorbeikam.
»Ich weiß nicht. Vermutlich ein paar Monate.«
Kate nickte. Ein paar Monate konnte sie warten.
»Was soll ich damit anfangen?« Die Wärterin hatte den glänzenden Goldring aus dem Wasser gefischt und hielt ihn zwischen Daumen und Zeigefinger in die Höhe.
Kate wedelte mit der Hand in Richtung Fenster. »Ach, das ist mir egal. Irgendwas! Werfen Sie ihn bitte weg.«
Sie nickte, bevor sie die Aufmerksamkeit wieder ihrem Finger zuwandte, ihn beugte und ihre nackte Hand bewunderte. Sie hätte auch von der Seife sprechen können, so gleichgültig war ihr der goldene Ring.
Kate schlüpfte zwischen die steifen, gestärkten Laken und wusste, dass sie endlich frei war. Das war ihr letzter Gedanke, bevor sie in einen tiefen, festen Schlaf driftete. Das war eine völlig neue Qualität von Schlaf. Sie hatte ganz vergessen, dass es das überhaupt gab.
Als sie am Morgen aufwachte und die Sonnenstrahlen zwischen den Gefängnisstäben hindurchschienen und ihre graue Decke mit Streifen überzogen, hatte sie ein Lächeln auf dem Gesicht und war mit sich im Reinen. Sie hatte es geschafft. Sie war entkommen und hatte ihren Frieden gefunden.
Kate grinste. Es fühlte sich einfach wunderbar an.
Heute
Im Haus war es unheimlich still. Natasha und Kate saßen auf dem Sofa vor dem offenen Kamin. Beide hatten weder Appetit noch Energie. Es war ein zermürbender Tag, ein zermürbender Monat gewesen. Die beiden Frauen waren mit ihrer Trauer beschäftigt, von ihrem Kummer erschöpft, und die Organisation der Beerdigung hatte ihre ganze Zeit in Anspruch genommen. Jetzt war es an der Zeit, in Ruhe nachzudenken, tief durchzuatmen, weil sie seit dem Tag, an dem Tanya sich das Leben genommen hatte, kaum hatten Luft holen können.
Kate spielte in Gedanken die Beerdigung noch einmal durch, als könne sie ihr dadurch etwas von ihrem Grauen nehmen. Düstere, dumpfe Orgelmusik hatte durch Penmarins kleine Kirche gehallt, als sie und Natasha angekommen waren – ein viel zu trauriges Stück für ein junges Mädchen wie Tanya, dachte Kate. Es hätte etwas Leichtes und Unbeschwertes sein sollen.
Die Bankreihen waren voll. Janeece und ihr Mann Nick waren bereits da, und Kate erkannte Leute, die sie aus
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