Was im Dunkeln liegt
Schnippen der kosmischen Schere, und es ist vorbei.
Ich trinke meinen Latte (warum kriegt man nirgendwo mehr eine ganz normale Tasse Kaffee?) und sinne über den Inhalt ihres ersten Briefes nach – ihrer Forderung nach der Wahrheit. Ich muss die Wahrheit erfahren , sagt sie. Warum muss sie das? Warum glauben die Menschen immer, es sei besser, wenn sie die Wahrheit wüssten? Ist es manchmal nicht besser, sie nicht zu kennen? Trudies Mutter kennt die Wahrheit nicht. Sie wurde ihr erspart, und ist es nicht besser so? Sie kann sich noch an die Hoffnung klammern, Trudie sei am Leben. Sie kann sich ihre Erinnerung an eine lachende, dunkelhaarige Nymphe bewahren – unberührt von der Wahrheit eines verwesenden, vergessenen Leichnams, der weit von zu Hause entfernt unter der Erde liegt, ohne eine würdige Grabstätte.
24
Da ich im Garten offensichtlich überflüssig war, kehrte ich in die Küche zurück, wo mich der Geruch nach abgestandenem Essen würgen ließ. Ich riss die Fenster auf, um etwas frische Luft hereinzulassen – und um das Gefühl zu haben, mit den anderen in Kontakt zu sein. Ich konnte sie weder sehen noch hören, wusste jedoch, dass sie nicht sehr weit weg waren. Ich räumte das Geschirr vom Tisch, kratzte die Teller ab, warf die Reste in den Müll und stapelte alles neben der Spüle, während ich insgeheim jeden Moment damit rechnete, dass Trudie hereingeschlendert käme. Ich wusste natürlich, es war unmöglich, und dennoch schien es gleichzeitig sehr wahrscheinlich zu sein. Viel wahrscheinlicher als das, was tatsächlich geschehen war.
Das Spülbecken befand sich unter dem Fenster, sodass man, wenn man an der Spüle hantierte, mit dem Rücken zum Zimmer stand: eine Position, die mir tiefes Unbehagen bereitete. Ich wusste, das Haus hinter mir war leer, doch dieses Wissen trug nicht dazu bei, die Empfindung von feindlichen Blicken im Rücken zu mindern. Es wurde sogar noch schlimmer, als ich die Küche verließ. Das ganze Haus schien voller welkender Erinnerungen zu sein: vertrocknete Kakteen sammelten auf dem Dielentisch
Staub an; ein vergessener Vorfahre starrte von einem fast schwarz gewordenen Gemälde hinab, als hielte er nach längst verstorbenen Verwandten Ausschau. Ich bemerkte, dass Trudies Jacke aus der Diele verschwunden war, und nahm an, Simon habe sie zusammen mit ihren anderen Sachen in ihr Zimmer gebracht – verbannte sofort den albernen Gedanken, Trudie habe sich die Jacke erst vor wenigen Momenten selbst geschnappt, um zu einem Spaziergang aufzubrechen. Als ich die Stufen hinaufstieg, überfiel mich ein neuer Gedanke – wenn früher Dinge verschwanden, hatte immer die ermordete Agnes als Erklärung gedient. Und jetzt Trudie … Gewaltsam schüttelte ich die Vorstellung ab und rannte die restlichen Stufen hinauf.
Noch außer Atem brachte ich mein Handtuch und das Shampoo ins Badezimmer und zog mein T-Shirt aus, um mir die Haare zu waschen. Das Rauschen des Wassers erschien mir unnatürlich laut, dröhnte in meinen Ohren, überdeckte alle anderen Geräusche. War da nicht eben eine Bewegung auf dem Treppenabsatz? Ich drehte das Wasser ab und lauschte, aber es war nichts zu hören. Als ich es wieder aufdrehte, wurde ich erneut von einer Vielzahl von Zweifeln überrollt. Wäre es nicht besser gewesen, Trudie an dem Fundort liegen zu lassen? Hatten wir in unserer Panik falsch gehandelt? Es war sicher ein Fehler gewesen, aus lauter Angst die Polizei nicht einzuschalten, denn hätten sie uns ohne irgendwelche Zeugen tatsächlich etwas anhängen können? Abgesehen davon wusste niemand, was genau passiert war. Ich gab mir Mühe, mich auf die Momente vor dem Schrei zu konzentrieren. Danny war überzeugt, es sei ein Unfall gewesen – aber angenommen, gestern Nacht hätte sich tatsächlich noch jemand
anderer im Wald herumgetrieben? Ich merkte, dass das Waschbecken überzulaufen drohte. Rasch drehte ich den Hahn zu und senkte den Wasserspiegel, indem ich etwas Wasser in den Überlauf schwappen ließ.
Als ich mich über das Waschbecken beugte, um mein Haar nass zu machen, wurde ich sogleich von der Vorstellung gepeinigt, jemand schleiche sich von hinten an mich an. Ich riss den Kopf wieder hoch, versprühte dabei eine Kaskade von Wasser über die Kacheln und den Boden, rannte zur Badezimmertür und schob den Riegel vor, doch das half nichts. Ich hatte lediglich meine Ängste zusammen mit mir eingesperrt, und sie drängten sich um mich, versuchten, die Oberhand
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