Was mich fertig macht, ist nicht das Leben, sondern die Tage dazwischen (German Edition)
weiterzuleiten. Außerdem sind wir mittlerweile ziemlich angeknallt und verlieren immer häufiger den Faden. Glaube ich zumindest.
Die lila Frauen sitzen noch immer am Nebentisch und praktizieren den Rollentausch, denn mittlerweile strecken sie die Lauscher aus, um ja nichts zu verpassen. Wo wir uns schon mal so nahe sind, lade ich sie an unseren Tisch ein und bestelle eine Runde Sekt.
Zehn Minuten später weiß ich Bescheid. Die eine ist geschieden, die andere arbeitet dran. Halbtagsjob & Singlepartys. Ich versuche, mich in ihren Alltag hineinzuversetzen, aber es deprimiert mich zu sehr, also verlege ich mich aufs Trinken und Zuhören.
Die Geschiedene erzählt, dass ihr Onkel letzte Woche gestorben ist. Nach einem Autounfall hätte er monatelang im Koma gelegen, und so lange hätte sein Zustand keine Operationen zugelassen. Als er eines Tages aufwachte, begann der wirkliche Horror, denn da fingen die Ärzte an, seine schief zusammengewachsenen Knochen neu zu brechen, um sie richtig zusammenzusetzen. Zwei Jahre später verließ er das Krankenhaus zum ersten Mal aus eigener Kraft, und einen Monat später diagnostizierte man bei ihm Zungenkrebs im fortgeschrittenen Stadium. Das war vor zwei Monaten.
Während sie erzählt, hat Halbtagsjob & Singlepartys Löcher in den Tisch gestarrt. Jetzt hebt sie die Augen und das Glas.
»Auf das Leben«, murmelt sie.
»Überleben ...«, erwidert die Geschiedene.
Ich mustere sie. Noch so ein Ding, und ich frage sie nach ihrer Telefonnummer.
Wir lassen die Gläser ausklingen und sitzen kurz da wie die vier Musketiere, bevor wir die Waffen an die offenen Wunden setzen, um die Schmerzen zu lindern. Halbtagsjob & Singlepartys trinkt in einem Ruck aus und lässt ihren Gefühlen dann freien Lauf. Die Tränen machen sie fast schön. Während sie weint, halte ich ihre Hand und denke daran, wie mein Dad mich eines Tages zur Seite nahm und mir eine Ansage zum Tod machte: Wenn ich einmal tot bin, dann spart euch die Kosten für einen Sarg. Verbrennt meinen Körper und streut die Asche in der Nähe aus, dann spart ihr euch das Busgeld. Und wenn ihr euer Leben verpfuscht, nur weil meins zu Ende ist, dann komme ich zurück und trete euch in den Popo, und glaubt mir – das wird kein erfreulicher Anblick! Also, wenn ihr etwas von mir wollt, dann nehmt es euch jetzt!
Nach der Ansage war ich total fertig und ließ ihn den ganzen Tag nicht mehr aus den Augen, aus Angst, dass er plötzlich tot umfallen würde. Als ein paar Tage vergangen waren, ohne dass ihn der Schlag getroffen hatte, fing ich an, mich zu entspannen. Und zu verstehen. Das Leben ist Gegenwart, nicht Vergangenheit, nicht Zukunft. Wir sind hier und jetzt.
Keine Zeit zu verlieren, daher halte ich der Bedienung vier Finger hoch und deute auf die leeren Gläser.
»Die Runde zahlen wir!«, rufen unsere Tischdamen.
Alle für einen und noch einen für uns alle. Es gibt noch Hoffnung.
9. Die Wege des Herrn
D ass der Weg das Ziel ist, überdenkt man spätestens dann noch mal, wenn man drei Stunden auf der A2 im Stau gestanden hat. Eigentlich wollte ich nur mal andere Luft schnuppern, aber da habe ich noch nicht geahnt, wie hoch der Kohlenmonoxydanteil sein würde. Wird wohl nicht die letzte Enttäuschung in meinem Leben gewesen sein.
Gerade geht die Sonne unter, und wenn ich an die nächsten Stunden in diesem Auto denke, wird mir auch sonst schwarz vor Augen, denn am Steuer sitzt ein Faschoarsch, der mich vor der Mitfahrerzentrale aufgelesen hat, und das Einzige, was uns verbindet, ist der leidenschaftliche Wunsch, den anderen nie getroffen zu haben. Zehn zu eins, dass er unter seinem Pulli ein: Juden? Welche Juden? -T-Shirt trägt.
Wir waren keine zehn Meter gefahren, als er schon eine böse Ladung Harmoniemucke ins Tapedeck schob: Deutschland ist schön, die Berge sind schön, die Weser ist schön, ach, ist das nicht schön? Dagegen gibt es erst mal nichts groß einzuwenden, aber ich hab da diese Allergie gegen Nationalkackismus und kriege so schnell Ausschlag. Vor allem in den Händen.
Ich versuchte, mich zu beherrschen, und hüllte mich in Schweigen. Alles ging gut, bis er anfing, mir von der guten alten Zeit vorzuschwärmen. Da er so um die fünfzig ist, meinte er sicher die an der Titte seiner Amme, aber ich ahnte, was kommen würde, und setzte mich vorsichtshalber schon mal auf meine Hände.
Er schwallerte fröhlich weiter, schwafelte von seiner Wehrsportgruppe, die junge und gesunde Männer brauchte – Männer wie mich
Weitere Kostenlose Bücher