Was sich kusst das liebt sich
dieser albernen, gefühlsduseligen Mädchen verwandelt hatte, die ihr früher über alle Maßen auf die Nerven gegangen waren, wenn sie im Bus mit ihrem Freund telefonierten und » Nein, leg du zuerst auf« säuselten.
Wenigstens kicherte sie nicht.
» Ich gehe jetzt«, sagte sie entschieden. » Ich habe eine ellenlange To-do-Liste abzuarbeiten, und das geht am besten, wenn du nicht in meiner Wohnung herumhängst und mich ablenkst.«
Max presste sich eine Hand aufs Herz, als hätten ihn ihre Worte tödlich verwundet. Dann wurde erneut sein Flug aufgerufen. » Ich muss jetzt wirklich los«, sagte er ernst. » Wenn ich diesen Flug verpasse, kann ich mir einen neuen Job suchen.«
Neve zog einen allerletzten Kuss in Erwägung. Nein. Sie musste sich umdrehen und gehen, ohne sich noch einmal umzusehen, sonst würde sie es nie schaffen.
Es war die reinste Qual, wieder ihr langweiliges altes Tagesprogramm abzuspulen. Acht Stunden Schlaf jede Nacht, morgens zwei Stunden Sport, drei ordentliche Mahlzeiten plus zwei kalorien- und kohlehydratarme Snacks pro Tag. Morgens kam sie pünktlich zur Arbeit, abends saß sie mit dem Laptop auf den Knien und den Kopfhörern über den Ohren in der Badewanne– sobald Charlotte spitzgekriegt hatte, dass Neve keinen Herrenbesuch mehr hatte, verwendete sie den Besenstiel mit besonderer Hingabe.
Außerdem musste sie sich nun endlich einmal um die ausstehende Korrespondenz kümmern. Jacob Morrison hatte ihr eine Mail geschickt und sie zu sich bestellt, vermutlich, um ihr schonend beizubringen, dass er nicht interessiert war, denn er hatte die sechseinhalb Kapitel, die sie ihm geschickt hatte, mit keinem Wort erwähnt. Oder er wollte, dass sie ihm sämtliche Dokumente übergab, damit sich ein richtiger Schreiberling ihrer Biografie annehmen konnte. Oder aber er hatte Lucys Kurzgeschichten und Gedichte gelesen und für so schlecht befunden, dass er das Projekt abblasen wollte. Außerdem hatte Neve eine Mail von ihrem Vater erhalten, der gegen Ende der Woche nach London kam und zwei Tickets für den neuesten Film mit Jennifer Aniston reservieren wollte.
Neve beschloss, beide Termine quasi in einem Aufwasch zu erledigen, dann hatte sie diesen Gefühlstsunami innerhalb von sechs Stunden hinter sich, statt dass er sich über die ganze Woche erstreckte. Sie beschloss, beide am Donnerstag zu treffen; auf diese Weise hatte sie danach noch bis Freitagmittag Zeit, um ihre schlechte Laune auszuleben und konnte sich dann gebührend auf Max’ Rückkehr freuen.
Am Donnerstagmorgen (ihrem D-Day, wie sie ihn nannte, wobei D für deprimierend und diffizil stand) holte sie dann auch die beiden Briefe aus der Schublade, die ihr William kürzlich geschickt hatte. Sie hatte sie nur einmal kurz überflogen und konnte sich gar nicht mehr genau an den Inhalt erinnern, obwohl sie sich sonst jede einzelne Silbe einprägte. Nun strich sie das zerknitterte dünne Papier glatt, um die Briefe noch einmal mit der gebührenden Aufmerksamkeit zu lesen.
Die Überzeugung, dass sie eines Tages ein Paar sein würden, hatte sie in den vergangenen drei Jahren konstant begleitet, und Neve stellte erleichtert fest, dass sie noch immer an dieser tröstlichen Vorstellung festhielt. Das mit Max war toll, aber es hatte ein Ablaufdatum; und die Gefühle, die sie für William empfand, gingen weit über eine rein sexuelle Anziehungskraft hinaus.
Er hielt ihre Seele in seinen Händen.
Liebste Neve,
in Kalifornien scheint stets die Sonne, und du glaubst gar nicht, wie langweilig und monoton ewiger Sonnenschein sein kann.
Ich sehne mich nach einem Spaziergang im Regen, nach grauen, feuchten Tagen mit Tee und Toast und einer Ausgabe der Times . Ich sehne mich danach, von frischem, feucht glänzendem, vielversprechendem Grün umgeben zu sein.
Die Sonne in England ist ephemer, kurzlebig, eine Illusion, ganz anders als das goldene Licht im Napa Valley oder die über LA schwebende Hitzeglocke.
Du siehst schon, ich habe Heimweh. Es gibt vieles, das mir fehlen wird, wenn ich LA verlasse, und ich wünschte, ich könnte das eine oder andere in meinem Handgepäck mitnehmen, aber ich freue mich unheimlich auf London und darauf, mit dir an der Themse spazieren zu gehen – egal bei welchem Wetter – und über alles und nichts zu plaudern. Oder auch einfach gemeinsam zu schweigen. Das wäre himmlisch.
Zum Schluss noch zu einem etwas prosaischeren Thema: Darf ich dich bitten, mir noch einmal Tee und eine Tafel Vollmilchschokolade von
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