Was sich kusst das liebt sich
Gesicht.
Neve musste das Foto nicht ansehen, denn sie sah es mindestens fünfmal täglich, wenn sie fettarme Milch oder irgendwelches Grünzeug aus dem Kühlschrank holte. Der vertraute Anblick hatte die Schockwirkung mit den Jahren etwas gemildert, und in letzter Zeit kam es ihr so vor, als würde das Bild ein Mädchen zeigen, das sie einmal gekannt hatte, und nicht das Mädchen, das sie einmal gewesen war.
» Doch, das bin ich«, stellte sie schlicht fest. Sie war an den ungläubigen Blick der Leute gewöhnt, die das Foto sahen. Sogar Celia hatte ähnlich reagiert, obwohl sie es gemacht hatte. » So dick warst du nie«, behauptete sie eigensinnig. » Das ist doch bloß ein unvorteilhaftes Bild.«
» Verstehst du jetzt, warum ich so bin, wie ich bin?«, fragte Neve leise.
» Wow«, sagte Max. Er betrachtete sie anerkennend, wie sie in ihrer grauen Tunika Größe42 vor ihm saß, die sie zwar alles andere als schlank aussehen ließ, aber es bestand kein Zweifel daran, dass sie unglaublich abgenommen hatte. » Verglichen mit damals bist du ja echt nur noch eine halbe Portion.«
Neve konnte von dem Blick, den Max ihr gerade zuwarf, nicht genug kriegen. Es war der gleiche Blick wie bei allen anderen Menschen, die sie seit ihrer Verwandlung zum ersten Mal sahen. Ein vollkommen fassungsloser, verblüffter Blick, auf den meist so etwas wie » Lieber Himmel!« folgte.
» Weniger als das«, kommentierte sie mit einem Anflug von Stolz. Aber den hatte sie sich redlich verdient. » Ich habe zwei ganze Kylie Minogues abgenommen.« Dann wurde sie wieder ernst. » Jetzt verstehst du bestimmt auch, warum ich nie einen Freund oder eine Beziehung hatte.«
Max schob das Foto von sich, als könnte er den Anblick nicht länger ertragen. » Aber viele f…ähm… dicke Leute haben Beziehungen.«
» Du kannst ruhig fett sagen, es stört mich nicht«, sagte Neve und setzte sich mit überkreuzten Beinen hin, weil sie das jetzt konnte. Sie konnte inzwischen auch mit untergeschlagenen Beinen dasitzen, wenn sie wollte. » Ich weiß, dass viele dicke Leute in einer glücklichen, gesunden Beziehung leben. Aber ich gehörte nicht dazu. Ich meine, ich hatte Freunde, Bekannte, aber ich war total unglücklich wegen meines Aussehens, und ich habe mich mit Essen getröstet, und dadurch wurde ich noch dicker und noch unglücklicher. Ich war nicht wirklich in der Verfassung, mir einen Freund zu suchen. Ich war überzeugt, dass mich die meisten Männer total abstoßend finden.«
» Aber dieser William findet dich nicht abstoßend?«
Neve schüttelte den Kopf. » Nein, überhaupt nicht.«
Max stützte die Ellbogen auf den Knien ab und musterte Neve ernst, ohne zu blinzeln. » Und er empfindet dasselbe für dich wie du für ihn?«
Sein Blick hatte die Wirkung eines Wahrheitsserums. » Na ja, jedenfalls glaube ich das.« Sie richtete sich auf und zwang sich, Max direkt in die Augen zu sehen. » Das Herz kennt die Wahrheit, heißt es doch immer, nicht?«
» Wenn er dich liebt, dann ist ihm egal, welche Kleidergröße du trägst oder welche Erfahrungen du gemacht hast oder auch nicht«, sagte Max sanft.
» Es geht mir nicht nur darum.« Neve schloss kurz die Augen. » Er wird mich fragen, ob ich mit jemandem zusammen war, und ich müsste es verneinen. Er weiß, dass ich in Oxford keinen Freund hatte, und das neulich Nacht… wenn ich mich bei William auch so dämlich anstelle, mache ich womöglich alles kaputt. Ich würde sterben.«
Es klang albern und melodramatisch, als sie es laut aussprach, aber Max nickte nur. » Du hättest mir sagen sollen, dass es deine Jungfernfahrt ist«, sagte er heiter. » Dann hätte ich es viel, viel langsamer angehen lassen. Ich garantiere dir, du hättest deinen Spaß gehabt.«
» Oh, Gott«, hauchte Neve schwach. Wie konnte er nur so ungeniert in der Öffentlichkeit über Sex reden? Bislang hatte sie das Thema ausschließlich mit Celia besprochen, und selbst da war es ihr äußerst schwer gefallen.
» Ganz ehrlich«, insistierte Max, der Neves Verlegenheit wohl für Zweifel hielt. » Ich weiß, das klingt unbescheiden, aber ich bin ein fantastischer Liebhaber, besonders, was das Vorspiel angeht. Ich muss nicht erst darum gebeten werden, meine Zunge einzusetzen; ich liebe es zu lecken, besonders, wenn…«
» Könntest du bitte endlich den Mund halten?«, flehte Neve.
» Meine Güte, bist du verklemmt. Du kannst noch nicht einmal darüber reden, stimmt’s?« Max runzelte die Stirn. » Hör mal, du hast
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