Was uns glücklich macht - Roman
Worte sprach sie in ganz normalem Ton aus. Die Stimme senkte sie, und zwar so weit, dass ich sie kaum noch hören konnte, als sie sagte: »Ich hoffe, du weißt, wie stolz ich auf dich bin.« Der ganze Satz kam gedämpft heraus, als hätte sie eine Frotteesocke über den Hörer gelegt, das Wort »stolz« war praktisch unverständlich. Sie redet, als wollte sie sich dauernd vorsorglich entschuldigen, falls sie einen stört, das tut sie schon mein ganzes Leben, oder zumindest seit Dad weggegangen ist.
Zu ihrer Verteidigung könnte man wohl vorbringen, dass ein vierzigster Geburtstag schon etwas vage Begräbnishaftes an sich hat. Auf alle Fälle läutet er ein Ende ein. Nicht das Ende des Lebens, von irgendetwas anderem. Zum Beispiel das Ende meiner Jugend. Ich bin keine junge Frau mehr, werde nie mehr eine sein. Niemand wird mich je wieder »Mädchen« nennen, nicht dass viele es getan hätten, aber es war tröstlich, in dem Bewusstsein zu leben, dass die Möglichkeit wenigstens bestand. Wenn ich mir Worte zum Flüstern aussuchen würde, würde ich »älter werden« und »ich spüre es allmählich im Rücken« so leise sagen, dass man es mir von den Lippen ablesen müsste.
Diese Gedanken gingen mir durch den Kopf, als ich ins Büro ging. Typisch meine Mutter, dass sie mich dazu bringt, an meinem Geburtstag gleich morgens an das Ende meiner Jugend und mein steifes Kreuz zu denken.
Ich bin Chief Administrative Officer einer großen Investmentbank in Manhattan. Der Titel war für mich geschaffen worden. Meines Wissens gibt es in größeren amerikanischen Firmen nur wenige – bis gar keine – CAO s. Ich wusste meine Harvard-Abschlüsse in Jura und Wirtschaft zu nutzen und fing in der Rechtsabteilung an. Mit der Zeit stieg ich zur Leiterin der Rechtsabteilung auf. Dann bekam ich die Personalabteilung dazu und wurde stellvertretende Vorstandsvorsitzende. Vor etwas mehr als zwei Jahren wurde ich von einer anderen Bank angeworben, einem kleineren Institut in Kalifornien. Sie boten mir die Stelle ganz an der Spitze. Doch Phillip wollte mich nicht verlieren, was zumindest teilweise auf unsere gemeinsame Vergangenheit zurückzuführen war, und so schuf er den CAO -Titel exklusiv für mich. (In der Bank witzelt man, ich sei das Chief Asshole der Organisation, eine Verballhornung, derer ich mir bewusst bin und die mich nicht weiter kümmert.) Zurzeit bin ich außerdem die ranghöchste weibliche Führungskraft in der Wall Street, unter mir habe ich einen persönlichen Stab von elf Mitarbeitern.
Meine Assistentin heißt Marie, eine atemberaubend hübsche junge Frau aus Brooklyn, die offiziell als Teamleiterin eingestellt ist, aber eigentlich eher als meine persönliche Vertraute fungiert. Ich bewundere Marie aus genau demselben Grund, aus dem ich sie ursprünglich nicht mochte: Sie sieht aus wie eine Nutte. An ihrem ersten Tag tauchte sie mit einer Haltung – und in einem Outfit – auf, die aus ihren Absichten keinen Hehl machten: Sie war hier, um einen Mann zu finden. Manche Frauen studieren an einer renommierten Universität, um dort einen Mann an Land zu ziehen, doch dazu war Marie nicht klug genug. Und so schrieb sie sich stattdessen in der Wall Street ein, mit zu viel Rouge und einem Rock, der kaum ihr Schamhaar bedeckte. Innerhalb von drei Monaten war sie mit mindestens einem halben Dutzend unserer Banker ausgegangen, und am Ende des Jahres war sie mit einem verlobt. Ich nahm an, dass ich Maries betörendes Dekolleté damit zum letzten Mal gesehen hatte, doch zu meiner Überraschung war dem nicht so. Beim Bewerbungsgespräch für ihre derzeitige Stelle fragte ich sie, warum sie sich entschieden hatte, weiterzuarbeiten. Die Frage überraschte und verletzte sie offensichtlich. »Bei allem Respekt, Ms. Emerson«, erwiderte sie mit schwerem Brooklyn-Akzent, »so wie Sie sich kleiden, haben Sie es wohl auch nicht nötig zu arbeiten. Ich schätze, ich arbeite aus demselben Grund wie Sie: Ich liebe meinen Job.« In diesem Moment hatte sie die Stelle, und es war das einzige Mal in all meinen Jahren in der Wall Street, dass ich mich bei jemandem entschuldigte.
Jetzt an meinem Geburtstag maß Marie mich mit einem Blick und folgte mir in meine Räume.
»Was’n los, Chefin?«, fragte sie, ohne Hallo zu sagen.
Ich begann, wahllos Papiere auf dem Schreibtisch herumzuschieben, versuchte möglichst geschäftig auszusehen, um dem Gespräch auszuweichen. »Wer sagt denn, dass irgendetwas los ist?«
»Ist es ein Mann?«, fragte
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