Wassermelone: Roman (German Edition)
gewesen.
Ich war wunderbar geladen und hätte am liebsten einen ordentlichen Streit vom Zaun gebrochen. Aber jedermann war zuvorkommend und umgänglich, und alles lief wie geschmiert. Verdammt.
Es war zehn nach fünf.
Der Flug verlief ohne irgendwelche Zwischenfälle.
Es wäre großartig gewesen, wenn der wichtig aussehende Geschäftsmann neben mir versucht hätte, ein Gespräch mit mir anzufangen oder, noch besser, mit mir zu flirten, damit ich meine schlechte Laune so richtig an ihm hätte auslassen können.
Ganz ehrlich, ich war richtig kindisch. Ich sehnte mich förmlich nach einem Anlass, etwas Gehässiges zu sagen. Ich überlegte, ob ich es nicht mal mit einer Stimme wie der von Joan Collins probieren sollte. Sie wissen schon, so ganz von oben herab, wobei meine Worte klingen würden, als fielen Eiswürfel klirrend in ein Glas. Ich hätte sagen können: »Es lohnt sich wirklich nicht, mich anzusprechen. Ich habe eine Saulaune und weiß nicht, wie lange ich es durchhalten würde, mich Ihnen gegenüber höflich zu verhalten.«
Aber abgesehen davon, dass er undeutlich »’tschuldigung« murmelte, während er in der Gegend meiner Hüfte nach seinem Sicherheitsgurt tastete, nahm mich der Mann überhaupt nicht zur Kenntnis. Er holte einfach einen Roman von Catherine Cookson aus seiner eindrucksvoll aussehenden ledernen Aktentasche und hatte sich in null Komma nichts in ihn vertieft. Bestimmt kennen Sie ihn. Es geht darin um das unehelich geborene junge Mädchen mit dem bordeauxfarbenen Muttermal, hinter der ihr Vetter her ist. Die Stiefmutter prügelt sie mit einer Reitgerte, ein Landjunker vergewaltigt sie, als sie dreizehn ist, und auf der Flucht vor ihm gerät sie mit einem Fuß in eine Kaninchenfalle, sodass man ihn amputieren und die Wunde mit einem rotglühenden Schürhaken ausbrennen muss, wobei ihre Schreie zwischen den Schlackenhaufen widerhallen. Oder ist das der Inhalt aller Romane von Catherine Cookson?
Jedenfalls begeisterte sich der Mann weit mehr für seine Lektüre als für mich, was mich ein bisschen kribbelig machte. In meiner miesen Gemütsverfassung sehnte ich mich nach einer Möglichkeit, mich an jemandem zu reiben. Ich wollte mich sozusagen auf die richtigen Gemeinheiten einstimmen, die ich später abfeuern würde. Aber es gab keine Gelegenheit.
Dann schämte ich mich und versuchte mit meinem Sitznachbarn ein Gespräch anzufangen. Ich lächelte ihm übertrieben zu, als er mir das Tablett mit dem Imbiss reichte, bot ihm freundlich an, sein Milchtütchen zu öffnen, als er damit Schwierigkeiten hatte, und schenkte ihm mein Pfefferminz, damit er es für sein Töchterchen mit nach Hause nehmen konnte (sein eigenes hatte er gegessen) – und so weiter.
Er erwies sich als äußerst umgänglich. Wir sprachen über das Buch, das er las, und ich empfahl ihm einige Autoren. Bei der Landung in Heathrow redeten wir einander schon mit Vornamen an. Wir schüttelten uns zum Abschied die Hand, bestätigten einander, dass es ein Vergnügen gewesen sei, uns kennenzulernen, und wünschten einer dem anderen aufrichtig eine gute Weiterreise.
Dann war ich wieder allein. Allein mit meinen Gedanken, meiner Angst und meiner Wut. Abgesehen von den neunzig Milliarden Menschen, die in Heathrow herumwuselten, war ich ganz allein in London.
Wäre das jetzt ein Film und nicht ein Buch, würden Sie Bilder von roten Doppeldeckerbussen und schwarzen Taxis sehen, die am Parlamentsgebäude und an Big Ben vorbeifahren, Polizisten mit komischen Helmen, die den Verkehr vor dem Buckingham-Palast regeln, und lächelnde Mädchen, die in superkurzen Röcken unter einem Schild mit der Aufschrift »Willkommen in Carnaby Street« stehen. Da das hier aber ein Buch ist, müssen Sie Ihre Fantasie bemühen.
In Heathrow ging es, nun … in Heathrow ging es, nun … es ging hektisch zu. Könnte man sagen. Der Wahnsinn in Reinkultur. Ich konnte nicht glauben, dass es überhaupt so viele Menschen gab. Es kam mir vor wie ein Renaissancegemälde vom Jüngsten Gericht, in das Leben gekommen war. Oder wie die Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele.
Exotisch gekleidete Menschen aus aller Herren Ländern, die sich in allen Sprachen unter der Sonne unterhielten, rannten an mir vorüber. Warum hatten es bloß alle so eilig?
Der Lärm war ohrenbetäubend. Lautsprecherdurchsagen teilten mit, was so alles verlorengegangen war: kleine Jungen, erwachsene Männer, teure Gepäckstücke, Geduld, die Beherrschung, der Verstand. Es gab so gut wie
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