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Wasserwelten

Wasserwelten

Titel: Wasserwelten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Lenz
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Strom brachte, standen sie dichtgedrängt und schweigend nebeneinander. Und drüben spie die Barkasse sie aus, sie sprangen und trampelten hinaus wie Äpfel vor einer Rutschschütte, trampelten über den hölzernen Landungsponton zum Zoll. Sie kramten ihre Karten heraus und hielten sie den Zöllnern vors Gesicht, und die Zöllner beobachteten sie ruhig. Sie ließen die ersten passieren, und plötzlich trat einer der Zöllner unter sie, und augenblicklich begann es sich zu stauen. Der Zöllner klopfte einen der Männer ab und holte aus seinen Pumphosen zwei Dosen Kaffee heraus – jetzt ging es langsamer vorwärts. Schritt für Schritt kam der Mann vom Haken dem Ausgang näher, neben ihm fluchten sie, aber er blieb still. Er sagte kein Wort, während er dem Zöllner, der wie ein Keil in der Mitte stand, näher und näher kam, er schwieg und sah ihn unverwandt an. Undwährend er ihn ansah, erlebte er das, was unweigerlich folgen würde: er hörte den gutgenährten Zöllner nach seiner Hafenkarte fragen, er hörte sich selbst, unter Anspielungen auf sein Alter, um das Mitleid des Zöllners werben – er glaubte schon jetzt zu wissen, worauf alles unfehlbar zusteuerte. Und er zuckte nicht einmal zusammen, als er plötzlich die Hand des Zöllners auf seiner Joppe spürte, die Hand glitt flüchtig über sie hin, war plötzlich am Hosenaufschlag, und da hatte er die Enge passiert. Sie hatten nichts bei ihm entdeckt.
    Er machte noch acht Schritte. Und acht Schritte hinter dem Zoll blieb er plötzlich stehen, sein Körper machte eine unvermutete, kreisende Bewegung, ein jähes, panisches Erstaunen lag in seinem Gesicht, und er stürzte auf die Pier. Und während ein gelbes Lastauto mit einer angegebenen Ladung Zitronen und einer nicht angegebenen Ladung Tabak den Schlagbaum passierte, trugen sie den Mann hinein und legten ihn auf eine Bank. Sie legten ihn mit den Füßen zum Kanonenofen und riefen den Hafenarzt, und dann kam der Arzt und sah den alten Schauermann auf der Holzbank liegen, und der Arzt öffnete die schwere Joppe und untersuchte ihn zweimal. Aber er blieb bei einem Tod durch Herzschlag.
     
    Schau, das ist der Hafen: Geh hinab und sieh. Geh durch seine Labyrinthe und Wünsche, durch seine Magie und durch seine Maßlosigkeit, und einem Staunen wird ein anderes folgen: Der Hafen ist voller Geheimnisse …
     
     

     
    Der Beweis
     
    Er maß und maß. Schon den ganzen Morgen war er dabei, die ›Bertha II.‹ zu vermessen, seinen plumpen, geduldigen Lastkahn, den er, mit Hilfe immer nur eines einzigen Leichtmatrosen, durch Flüsse und Kanäle geführt hatte mehr als zweiunddreißig Jahre. Langsam und gewissenhaft nahm er Maß, mit eigensinniger Sorgfalt, ließ sich vom Meterband die Breite bestätigen, bewies dem Frachtraum seine Länge, las am fallenden Band die Höhe ab und trug alles in ein Notizbuch ein, während ich, sein einziger Leichtmatrose, auf dem Vorschiff saß, ganz betäubt von dem Licht und der Hitze über dem Ufer. Wir lagen vor den Schleusen fest, müssen Sie wissen, und der Sommer machte die Elbe schwarz, ließ den Spiegel weit unter Normal fallen und buk die Algen auf den Steinen tot, und in den zitternden Luftschichten war ein Geruch von Brand und Verwesung. Sein bedächtiger Schritt unten in der Kühle der Frachträume war das einzige Geräusch, das ich auf dem warmen Eisendeck hörte, allenfalls ein leichtes Klatschen, wenn er das Meßband auf die Bodenbretter fallen ließ. Zweimal hatte ich ihn gefragt, ob ich ihm helfen solle, zweimal hatte er schweigend abgewinkt, und so saß ich und sah ihm beim Vermessen seines gedrungenen Lastkahns zu, seiner ›Bertha II.‹, die bewandert war in Ufern, Schleusen und Hebewerken.
    Albert Schull maß den Abstand zwischen den Spanten, die den Frachtraum wie schwarze Rippen umschlossen, maß dann den Boden und die Höhe bis zum Deck und noch einmal bis zu den Luks, und ruhig, ohne Verblüffung oder Groll, das Notizbuch gegen die eiserne Bordwand gelegt, machte er seine Eintragungen, wonach er weder rechnete noch überlegte, sondern sich sogleich hinkniete und mit geduldiger Genauigkeit die Winkel ausmaß und die gewonnenen Werte ausdruckslos in sein Buch schrieb. Ich war da nicht mißtrauisch, war nicht beunruhigt, als er so sein Schiff vermaß, das möchte ich Ihnen versichern, obwohl ich mich natürlich hätte fragen können, wozu er, ausgerechnet vor der letzten Frachtübernahme, vor dem allerletzten Auftrag, die Abmessungen seiner ›Bertha‹

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