Wasserwelten
uns hinauf in einen kühlen Flur.
Ich hatte damit gerechnet, daß Albert Schull mich mitnehmen würde überallhin und daß er mich als Zeugen wünschte bei jedem Gespräch, doch in der schattigen Kühle des Flurs wies er auf eine Bank, sagte: »Wart da, Jungche«, nickte mir zu, verschwand in der Anmeldung und ließ mich allein. Ich saß und wartete und rauchte, bis einer kam und mir das Rauchen verbot, danach saß ich nur und horchte, stellte mir vor, wie Albert Schull hinter den Türen verhandelte mit Hilfe der Papiere und der neuen Maße, wie er geduldig sprach in seinem breiten, gemütlichen Tonfall und zuletzt, als sprechenden Beweis, womöglich noch sein Maßband auf den Tisch legte. Mehrmals öffneten sich Türen, Männer traten heraus, gingen eilig, aufgeräumt oder nachdenklich, an mir vorbei, nur mein Kapitän kam und kam nicht. Da fragte ich mich, warum er mich mitgenommen hatte, denn den Weg, sagte ich mir, hätte er doch auch allein gefunden, aber da wußte ich ja noch nicht, welchen Dienst er von mir erwartete. Einmal trat er mit einem hünenhaften Beamten, der seine Papiere trug, auf den Korridor, aber nur, um hinter einer anderen Tür zu verschwinden; er hatte keinen Blick für mich, kein Lächeln wie sonst. Mir wurde espeinlich, so lange zu warten, denn eine große, gesäßlose Sekretärin, die anscheinend in mehreren Zimmern zu tun hatte, musterte mich mit zunehmender Mißbilligung, sooft sie an mir vorbeiging.
Ich hielt aus, ich blieb sitzen und stellte mir den dramatischen Beweis vor, den Albert Schull lieferte, um sich Gerechtigkeit zu verschaffen, Gerechtigkeit für acht unberechnete Tonnen Fracht, die er für einen unbekannten Teilhaber durch zweiunddreißig Jahre gefahren hatte. Ich tat es so lange, bis ich hungrig wurde und erwog, eine heiße Wurst in der Kantine zu essen, doch da kam er, kam ohne seine Aktentasche und die Beweismittel, und an seiner Haltung, an seinem Gang und an seinem Gesicht erkannte ich, daß ich einen veränderten Kapitän hatte. Er kam mit kleinen, heftigen Schritten auf mich zu, stöhnte, ergriff meinen Arm, drückte zu, als ob er sich Erleichterung davon erhoffte; dann stieß er mich zum Ausgang. »Umsonst?« fragte ich. »Alles umsonst?« Er antwortete nicht, schien nicht einmal meine Frage gehört zu haben. Der Portier rief uns etwas zu, streckte seine Hand durch die Sprechklappe; Albert Schull hörte nichts, sah nichts, trieb mich mit Stößen und Blicken in die Sonne hinaus und weiter zur Haltestelle des Busses. Ich kannte da Albert Schull nicht so gut, als daß ich gewußt hätte, daß er allem Unvorhergesehenen durch Schweigen begegnete, und zwar durch ein nennenswertes Schweigen, denn es mutete zugleich bedrohlich und hilflos an. So fuhren wir zurück, er schweigend neben mir, mit schmalen Augen und Händen, die darauf aus waren, etwas zu umfassenund zu drücken, und was er erreicht oder nicht erreicht hatte, das behielt er für sich. Sein gelegentliches Stöhnen enthielt nicht mehr als Andeutungen, konnte da noch beliebig gedeutet werden. Eile, Eile war das einzige, was ihm anzumerken war, und vielleicht auch eine nicht näher zu bezeichnende Gewalt, der er sich widersetzte. Er ließ es geschehen, daß ich ein Fenster im Bus öffnete, wahrscheinlich bemerkte er es nicht einmal, obwohl die strömende Fahrtluft sein Gesicht traf, in seinem dünnen Haar einen Sturm verursachte.
Als wir den Bus verließen und den Strom sehen konnten, wenn auch noch nicht unsere ›Bertha‹, machte ich wieder einen Versuch, fragte einfach: »Anerkannt? Haben sie Berthas Taillenweite anerkannt?«, worauf er mich nickend aufforderte, in die ›Goldene Schleuse‹ hinüberzugehen, in diese Kneipe, in der es mich zu jucken begann, sobald ich mich nur auf eines der fleckigen, altmodischen Sofas gesetzt hatte. Er verlangte es mit einem Ausdruck, der keinen Widerspruch zuließ; das war mir neu, und ich tat, was er wollte.
Die ›Goldene Schleuse‹ war immer besetzt, immer von den gleichen Leuten, die an den fleckigen Sofas festgeklebt waren und ihre Kähne vergessen zu haben schienen, die unten im toten Arm nebeneinander vertäut waren. Sie saßen im Hemd da, die Mütze auf dem Kopf, hatten nichts miteinander zu reden, nur wenn ein Neuer hereinkam, dann sahen sie sich fest an ihm und unterhielten sich mit ihren Blicken. Wir gingen an ihnen vorbei zur Theke, Albert Schull verlangte zwei Flaschen Bier, ergriff seineFlasche hastig und begann zu trinken, ohne mir zuzuprosten. Während
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