Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wasserwelten

Wasserwelten

Titel: Wasserwelten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Lenz
Vom Netzwerk:
überprüfte, dieses behäbigen, ausgedienten Flußpferds, das längst zum Abwracken bestimmt war, vielleicht sogar schon einen Termin hatte, zu dem es an der Schrottpier erscheinen sollte.
    Seit vierzehn Monaten nannte ich ihn ›Kapitän‹. Seit vierzehn Monaten war ich Albert Schulls einziger Leichtmatrose, und auf den Süßwasser-Reisen, auf denen ich für ihn arbeitete, hatte er mich nie neugierig auf sich machen können. Er stammte aus dem Osten, ich glaube, aus Nikolaiken oder Schwentainen, war untersetzt und breitwangig wie die Leute dort, hatte ein fleischloses Gesicht, graue Augen, deren Blick einen nie unsicher machte, auch wenn etwas von vergnügter List in ihnen lag, eine harmlose Verschlagenheit. Wenn er das Ruder hielt, sanft, gar nicht wie ein Kapitän, wenn er, von der Brücke, mit denSchleusenwärtern sprach, breit, höflich, als ob er sie mit der Stimme streichelte, dann fiel es mir jedesmal schwer, in ihm den Schiffsführer zu sehen, und ich, ich brauchte nur von der Arbeit aufzublicken und ihm zuzulächeln, damit ich sein Lächeln als Antwort erhielt. Eisgang auf den Flüssen, Regenböen, zerrende Strömungen: nichts brachte ihn außer sich, nicht die winterlichen Schrammen, die ›Bertha‹ sich zuzog, nicht die sinkenden Frachtraten. An trüben Morgen, auch unter nebligen Ufern, wenn wir vorbeituckerten an unbelebten Dörfern, womöglich nur Leergut an Bord, stand Albert Schull auf der Brücke, zufrieden und genügsam wie die Leute in Nikolaiken oder Schwentainen.
    Ich wußte wirklich nicht, wozu er unten war und sein Schiff vermaß, hin und her ging zwischen den blendenden Sonnenquadraten auf dem Boden des Frachtraums, ohne Eile, ohne Seufzen vor allem, an diesem harten Sommertag ohne Seufzen, denn über den Luks und über dem eisernen Deck zitterte die Luft, und das Licht machte einen ganz verrückt und durchschlug sogar die geschlossenen Lider. Meinem kleinen, breitwangigen Kapitän schien das nichts auszumachen, er ertrug die Hitze, wie er die Kälte ertrug, und er war außerdem noch tätig in seiner pfefferfarbenen Jacke, mit der verschossenen Tuchmütze auf dem Kopf, und ich brauchte, nebenbei gesagt, nicht daran zu zweifeln, daß er diesmal vergessen hatte, die beiden Garnituren seines wollenen Unterzeugs auszuziehen, die er immer auf dem Leib trug.
    Es ging mich nichts an, warum er auf einmal sein Schiffvermessen wollte, jetzt noch, kurz vor der letzten Frachtübernahme, kurz vor dem Abwracken, denn seit mehr als zweiunddreißig Jahren kannte er doch seine ›Bertha‹ und ihre Verdrängung und Ladefähigkeit, und alle ihre altmodischen Abmessungen standen doch in den Schiffspapieren und mußten ihm vertraut sein. Ich saß in der Sonne auf dem Vorschiff, die Füße in einer Pütz mit lauwarmem Wasser, den Kopf im Schatten der baumelnden Wäsche; so schlief ich ein, und ich verschlief den Augenblick, in dem Albert Schull aus dem Frachtraum heraufstieg und in die Kajüte ging mit den neu gewonnenen Zahlen in seinem Notizbuch.
    Ein sengender Wind, der von den Ufergärten herüberkam, weckte mich. Ich stand auf, blickte in die Luke hinab, meine Fußsohlen brannten auf dem warmen Eisen, auf dem Wasser funkelte es wie altes Öl. Ich wußte gleich, daß er in der Kajüte war, in dem niedrigen, holzverkleideten Raum, in dem er auf selbstgefertigten Ständern seine Topfpflanzen zog, an die er von Zeit zu Zeit mahnende Ansprachen richtete. Kein Bild, kein Buch, keine persönliche Erinnerung waren in der Kajüte zu finden, nur Schrank, Bett und Tisch, ein Drehstuhl mit Armlehne und, wie gesagt, schwere Topfpflanzen, die in ihrer gedrungenen Robustheit ›Berthas‹ Natur zu entsprechen schienen. Albert Schull saß vor dem Tisch, auf dem er Papiere und Pläne ausgebreitet hatte, saß unbeweglich da, mit dunklem Gesicht, mit gespannten Schultern, seine Augen waren fast geschlossen, sein Kopf vorgestreckt, so, als lauschte er. Leise drückte ich das Fensterauf, wartete schweigend, in der Hoffnung, er werde sich umwenden, doch er blieb sitzen in dieser Haltung mühsamen Lauschens, und da fragte ich: »Haben Sie was für mich, Kapitän?« »Zieh dich an«, sagte er. »Jetzt?« fragte ich, »jetzt gleich?« »Sofort«, sagte er, »zieh man dein bestes Zeug an, Jungche. Setz die Mitze auf, wir missen an Land. Mach das Bootche klar.« »An Land?« fragte ich zum Fenster hinein. »Ja, Jungche«, sagte er, »wir missen an Land.« Und ich noch einmal: »Ist etwas geschehen? Etwas Schlimmes?« »Ja«, sagte

Weitere Kostenlose Bücher