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Wasserwelten

Wasserwelten

Titel: Wasserwelten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Lenz
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er und sagte es gegen die Wand.
    Ich ging in meine Kammer und zog mich an, meine Haut brannte unter dem Stoff, der Sommer machte eine Schmiede aus meiner Kammer, die Luft glühte, und immerzu fiel ein Hammer. Dann machte ich das Boot klar und ging in die Kajüte, wo Albert Schull schon auf mich wartete, angetan mit einem fleckenlosen, geschonten Zweireiher, schwarz mit grauen Streifen. Er hatte die Mütze gegen einen Hut getauscht. Er hielt eine Aktentasche in der Hand. Der Tisch war aufgeräumt, und die feucht schimmernde Erde in den Töpfen verriet, daß er den Pflanzen Wasser gegeben hatte. »Was ist passiert?« fragte ich. »Genug«, sagte er. »Wo wollen wir hin?« »Wo’s Gerechtigkeit gibt, Jungche, aufs Frachtbüro, da wollen wir hin.« »Was für ’ne Gerechtigkeit?« fragte ich.
    Er seufzte, machte eine resignierte Handbewegung, stieg mir voraus aufs Deck und dann wortlos ins Boot hinab, das ich hinüberwriggte zum Anlegesteg, stehend und knapp aus den Handgelenken, ganz geblendet vonder Sonne auf dem schwarzen Wasser. Albert Schull saß regungslos auf der mittleren Ducht, hielt die Aktentasche auf den Knien, und so, wie er dasaß in dem Licht und in dem unaufhörlichen Mittag, hatte er etwas von einer lächerlichen Würde, von einer komischen Feierlichkeit. Er ließ mich das Boot festmachen, schritt feierlich, blicklos über den Landungssteg, wartete auf der Straße, ohne sich nach mir umzusehen. Hintereinander gingen wir durch den Staub zur Haltestelle des Busses, und dort berührte er mich einmal, indem er meine Hände aus den Taschen zog.
    Wir fuhren mit dem Bus in die Stadt, er löste die Fahrscheine für uns beide, suchte uns einen Platz aus und untersagte mir, ein Fenster zu öffnen. Unsere Körper schwankten, hüpften, kippten im gleichen Rhythmus zur Seite. »Zum Frachtbüro?« fragte ich. Er klopfte mit loser Hand auf die Aktentasche. »Welche Gerechtigkeit?« fragte ich, und Albert Schull, mein Kapitän seit vierzehn Monaten, wandte mir sein dunkles Gesicht zu und sagte leise: »Zuwenig, Jungche, Bertha is man zu klein vermessen: das hab ich ausgerechnet.« »Zu klein?« fragte ich. Er nickte. Er sagte: »Um acht Tonnen zu klein. Sie haben sie vermessen mit zweihundertvierundfünfzig Tonnen, aber sie hat eigentlich zweihundertzweiundsechzig. Sie haben einen Fehler gemacht beim Vermessen und beim Registrieren. Ist sicher, Jungche, ist ganz sicher.« Er klopfte wieder auf die Aktentasche und fuhr fort: »Wer sehn möchte Beweise, Beweise hab ich genug. Wer lesen kann, wird sich schnell überzeugen.« »Acht Tonnen?« fragteich. »Acht Tonnen«, sagte er. »All die Jahre?« »All die Jahre.« Er drückte die schäbige, unverschließbare Aktentasche an seinen Leib. Er sah da zuversichtlich aus, möchte ich sagen, und sein breitwangiges Gesicht erschien mir entspannt, verbarg keinen Plan. Ich wußte, was er von mir jetzt erwartete, und ich sagte: »Acht Tonnen durch all die Jahre, das gibt eine gute Zahl.« »Viele Fahrten«, sagte er. »Wenn sie anerkannt werden«, sagte ich. »Unberechnete Fracht«, sagte er, und ich darauf, ganz erledigt von dem Sommer: »Verloren, vielleicht ist alles verloren.«
    Wir stiegen am Hauptbahnhof um und noch einmal am Rathaus, und ich sah, daß Albert Schull nicht mehr angesprochen werden wollte, daß er erkennbar rechnete, acht Tonnen Überfracht durch zweiunddreißig Jahre, nicht immer, aber doch so oft, daß die Zahl, die sich als Forderung ergab, Bewunderung und Erschrecken zugleich hervorrief oder doch hervorrufen würde ... acht Tonnen, die ihm fehlten, die unberechnet geblieben waren, wann immer er nach registrierter Ladefähigkeit gefahren war, und obwohl er zu wissen schien, daß der genaue Verlust sich nie mehr würde errechnen lassen, reichte bereits das ungefähre Resultat aus, um meinen Kapitän, sagen wir mal, vor eine Aufgabe zu stellen, der er alles unterordnete. Kein Groll, auch kein vermuteter Triumph bestimmten seine Schritte, als er mir vorausging zum sechsstöckigen Backsteingebäude unserer Genossenschaft, in dem das Frachtbüro ein Stockwerk besetzt hielt; er schritt gleichmäßig, aufrecht, allenfalls ein wenig steif dahin, so als seier überzeugt davon, daß man ihm die beanspruchte Gerechtigkeit gebührenpflichtig durch einen Schalter hinausreichen werde. Der invalide Portier im Glashaus widerlegte ihn nicht darin. Er winkelte seinen Arm hoch an, streckte die Hand durch die Sprechklappe und begrüßte uns notdürftig, doch herzlich, und wies

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