Wege des Herzens
Schreibtisch hinaufzugreifen, aber Hilary erklärte ihm, dort zu bleiben, wo er war, und der Natur ihren Lauf zu lassen. Nach ein paar vergeblichen Versuchen beschloss er, genau das zu tun. Normalerweise hatte Hilary immer recht.
[home]
KAPITEL DREI
B estürzt blieb Hilary Hickey stehen, als ihr aus einem Schaufenster ihr Konterfei entgegenblickte. Sie sah nicht nur sehr alt, sondern auch noch ziemlich bizarr aus. Die Haare standen wirr nach allen Seiten ab, und ihre Kleidung erweckte den Anschein, als hätte sie auf die Schnelle irgendetwas zusammengerafft. War das das Bild, das sie anderen Menschen bot, fragte Hilary sich erstaunt. Eigentlich hatte sie gedacht, sie würde ganz anders aussehen. Hätte man sie um eine Beschreibung von sich gebeten, hätte sie geantwortet: schlank, adrett, gepflegt, fit, mit einem netten offenen Lächeln. Es war dieses Lächeln, das vor vielen Jahren Dan Hickey veranlasst hatte, bei der Eröffnung einer Kunstgalerie seine reiche Verlobte stehenzulassen und sich ihr zuzuwenden.
Heutzutage würde kein Mann mehr seine Frau verlassen, um mit ihr zusammen zu sein, dachte Hilary wehmütig. Wahrscheinlich würde er sogar die Straßenseite wechseln, um ihr aus dem Weg zu gehen. Bei näherem Hinsehen erkannte Hilary, dass das Schaufenster, vor dem sie stand, zu einem Friseursalon gehörte. Vielleicht war das ein Zeichen, eine Botschaft, die ihr sagen wollte, dass es an der Zeit war, sich ihrer verwilderten Frisur anzunehmen. Auf der Stelle würde sie hineingehen und sich erkundigen, ob jemand frei war und ihr noch heute die Haare schneiden konnte. Wenn ja, dann war das eindeutig ein Omen. Die junge Frau am Empfangstresen hieß Kiki.
»Natürlich«, erwiderte Kiki, »ich kann Sie gern sofort drannehmen.« Für Hilarys konservativen Geschmack war die Friseurin jedoch gefährlich jung und viel zu aufgedonnert.
»Aber was ist mit dem … äh … mit dem Empfang?«, fragte Hilary nervös.
»Oh, der kommt einen Moment auch ohne mich aus«, sagte Kiki, holte ein paar Handtücher und führte Hilary zu einem Waschbecken.
Während sie ihr die Haare wusch, erzählte sie ihr von einem neuen Club, der in der nächsten Woche eröffnen sollte.
»Mein Sohn geht wahrscheinlich auch dorthin«, entgegnete Hilary erfreut. So ein Club hörte sich ganz nach Nicks Geschmack an – laut, schrill und vor Mitternacht kein Leben in der Bude. Oft liefen sich Mutter und Sohn frühmorgens über den Weg, wenn sie in die Klinik fuhr, aber Hilary hatte gelernt, sich jeden Kommentar zu verkneifen.
Nick war nämlich in vielerlei Hinsicht der perfekte Sohn. Er war Musiker, recht talentiert, und unterrichtete am Nachmittag Klarinette und Gitarre, so dass er nebenbei auf seine Großmutter aufpassen konnte. Wenn er jedoch in der Musikschule war oder zu einem Schüler nach Hause musste, war natürlich niemand da, der sich um Hilarys Mutter kümmern konnte.
Hilary biss sich auf die Unterlippe. Wie immer kam sie mit ihren Überlegungen zum selben Schluss. Ihr war es vollkommen egal,
was
die sogenannten Experten sagten. Sie würde ihre Mutter Jessica nicht in ein Heim für Demenzkranke stecken, sie würde ihre Mutter
nicht
weggeben.
Hilary war als Einzelkind aufgewachsen, verwöhnt und verhätschelt von ihren Eltern. Ihr Vater, ein gutaussehender Mann, hatte als Verkäufer in einem Showroom für Autos gearbeitet. Er war vernarrt in alles, was vier Räder hatte. Hilary erinnerte sich daran, wie er seine Autos immer gestreichelt und fast zärtlich mit ihnen gesprochen hatte. Eines Tages würde er genug gespart haben, um sich selbst einen wunderschönen Wagen leisten zu können, versprach er seiner Familie. Und dann würden sie jeden Sonntag gemeinsam einen Ausflug aufs Land machen.
Doch bevor es dazu kommen konnte, lernte Hilarys Vater eine sehr blonde Dame in einem sehr schwarzen Ledermantel kennen, die bei ihm einen Wagen kaufen wollte und dafür sehr viele Probefahrten machen musste. Während einer dieser Testfahrten stellte sich heraus, dass Hilarys Vater und die Dame im schwarzen Ledermantel füreinander bestimmt waren. Sie wollten zusammen in den Süden Englands umsiedeln und dort ihre eigene Familie gründen.
Zu der Zeit war Hilary elf Jahre alt gewesen.
»Werde ich meine Ferien dann in Südengland verbringen?«, hatte sie gefragt. Ihre Mutter war skeptisch. Es sei besser, sich keine Hoffnungen zu machen und stattdessen hart zu arbeiten und einen guten Beruf zu erlernen. Das hätte auch ihr Vater gern
Weitere Kostenlose Bücher