Weiberregiment
auf einem umgestürzten
Baum und blickten den Hang hinunter. Sie hielten sich an den Händen.
Sie hielten sich immer an den Händen, wenn sie sich al ein wähnten.
Aber Pol y gewann den Eindruck, dass sie sich nicht wie… wie Freunde
an den Händen hielten. Beide Hände waren fest umeinander
geschlossen, wie bei jemandem, der über den Rand einer Klippe
gefallen war und sich an der Hand des Retters festklammerte, die ihn
vor dem tödlichen Sturz in die Tiefe bewahrte.
»Tee ist fertig!«, sagte Polly mit zitternder Stimme.
Die beiden Mädchen drehten sich um, und Pol y tauchte zwei Becher
in den heißen Tee.
»Niemand würde euch hassen, wenn ihr heute Nacht weglauft«, sagte
sie leise.
»Wie meinst du das, Schnieke?«, fragte Stecher.
»Was erwartet euch im Kneck-Tal? Ihr seid aus der Schule
entkommen. Ihr könnt überall hin. Bestimmt wärt ihr imstande…«
»Wir bleiben«, sagte Tol er streng. »Wir haben darüber gesprochen.
Wohin sol ten wir gehen? Und angenommen, es verfolgt uns tatsächlich
jemand?«
»Wahrscheinlich nur ein Tier«, sagte Pol y und glaubte selbst nicht
daran.
»Tiere verhalten sich anders«, erwiderte Tol er. »Und Maladikt wäre
deshalb bestimmt nicht so nervös. Vermutlich sind es weitere Spione.
Früher oder später erwischen wir sie.«
»Niemand wird uns zurückbringen«, sagte Stecher.
»Oh. Äh… gut«, sagte Polly und wich zurück. »Nun, ich muss weiter,
niemand mag kalten Tee.«
Sie eilte um den Hügel herum. Wenn Stecher und Toller zusammen
waren, hatte sie das Gefühl zu stören.
Reißer hielt in einem kleinen Tal Wache und beobachtete das Gelände
weiter unten mit ihrem typischen Gesichtsausdruck von besorgter
Aufmerksamkeit. Sie drehte sich um, als Pol y näher kam.
»Oh, Polly«, sagte sie. »Gute Nachrichten!«
»Prächtig«, erwiderte Pol y. »Ich mag gute Nachrichten.«
»Sie meint, es sei so weit in Ordnung, dass wir unsere Dimitztücher
nicht tragen«, sagte Reißer.
»Was? Oh. Gut.«
»Aber nur, weil wir einem Höherem Ziel dienen«, sagte Reißer. Und
so, wie Bluse Anführungsstriche aussprechen konnte, war sie in der
Lage, bedeutungsvol e Großbuchstaben in ihren Sätzen unterzubringen.
»Das ist gut«, sagte Polly.
»Weißt du, Pol y, ich glaube, von Frauen regiert, wäre die Welt viel
besser. Dann gäbe es keine Kriege. Das Buch hielte eine solche Idee
natürlich für eine Schreckliche Abscheulichkeit in Nuggans Augen.
Aber vielleicht irrt es. Ich werde die Herzogin fragen. Möge sie diesen
Becher segnen, aus dem ich trinke«, fügte Reißer hinzu.
»Äh, ja«, sagte Polly und fragte sich, was sie mehr fürchtete: Maladikt,
der sich plötzlich in ein blutgieriges Ungeheuer verwandelte, oder
Reißer, die das Ende der Reise in ihrem Bewusstsein erreichte. Sie war
ein Küchenmädchen gewesen, und jetzt unterzog sie das Buch einer
kritischen Analyse und sprach mit einer religiösen Ikone. Solche Dinge
erzeugten Reibung. Die Gegenwart jener, die die Wahrheit suchen, ist
unendlich viel besser als die derjenigen, die glauben, die Wahrheit
gefunden zu haben.
Pol y beobachtete, wie Reißer Tee trank, und dachte dabei: Man
glaubt nur dann, dass die Welt von Frauen regiert besser wäre, wenn
man nicht viele Frauen kennt. Zumindest nicht viele alte Frauen. Zum
Beispiel die Dimitztücher. Freitags mussten Frauen ihr Haar bedecken,
doch davon stand nichts im Buch, das in den meisten Dingen verflix…
verdammt streng war. Es war schlicht und einfach ein Brauch. Und
wenn man es vergaß oder wenn man das Tuch nicht tragen wol te, so
bekam man es mit den Alten zu tun. Sie konnten praktisch durch
Mauern sehen. Und die Männer achteten darauf, denn kein Mann
wol te die Alten verärgern, aus Furcht davor, dass sie damit begannen,
ihn zu beobachten. Deshalb gab es halbherzige Strafen. Wenn eine
Hinrichtung stattfand – oder besser noch: eine Auspeitschung –, saßen
die Alten immer in der ersten Reihe und lutschten Pfefferminz.
Pol y hatte ihr Dimitztuch ganz vergessen. Sie hatte es freitags zu
Hause getragen, wenn auch nur deshalb, weil das leichter war, als es
nicht zu tragen. Sie schwor sich, dass sie es nie wieder tragen würde,
wenn sie jemals heimkehrte…
»Äh… Reißer?«, fragte sie.
»Ja, Polly?«
»Du hast doch einen direkten Draht zur Herzogin, oder?«
»Wir sprechen über dies und das«, sagte Reißer verträumt.
»Äh, könntest du ihr gegenüber viel eicht die Frage des Kaffees
anschneiden?«,
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