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Weichei: Roman (German Edition)

Weichei: Roman (German Edition)

Titel: Weichei: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Boltz
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Ameisensaugvorgang heute etwas vorzuziehen. Obwohl ich heute etwas zu früh dran bin, schätze ich, dass schon ein paar Exemplare den Weg auf mein Fensterbrett gefunden haben sollten. Und tatsächlich hat sich bereits wieder eine beachtliche Anzahl der Tierchen in gewohnter Starre versammelt.
    Ich stecke den Stecker ein, und das turbinenhafte Geräusch meines Staubsaugers erklingt. Nicht ohne Stolz lege ich mein neues Minihandy gut sichtbar neben einigen Münzen Hartgeld ans andere Ende der Fensterbank. Diese exakt sechs Euro erlauben mir in einem Notfall bei Joey’s eine Pizza Luzifer classic für 5,60 Euro plus Trinkgeld zu bestellen oder dem spontanen Drang nach einem Päckchen Zigaretten nachgeben zu können. Dazu müsste ich allerdings erst mal anfangen zu rauchen. Aber man weiß ja nie.
    Jedenfalls klingelt das verdammte Handy immer noch nicht. Ich überprüfe mehrmals, ob ich es nicht versehentlich
auf lautlos gestellt habe, und stelle fest, dass dem nicht so ist. Im monotonen Verwirbelungsklang des Staubsaugers verloren, schweifen meine Gedanken ins sinnfreie Nichts. Ich überlege mir, was um alles in der Welt diese Ameisen immer wieder zu mir führt und warum ausgerechnet auf meinem Fensterbrett ihr Lebenslicht erlischt. Ich habe mal etwas Ähnliches bei einem TV-Bericht über Elefanten gesehen. Dabei kamen die Dickhäuter über Generationen an einen bestimmten Ort, nur um dort zu sterben. Sie nannten es Elefantenfriedhöfe. Und genau wie bei diesem Bericht sammeln sich auch meine emsigen Mehrbeiner anscheinend nur, um im Anschluss auf meinem Fensterbrett zu verenden. Aber warum zum Teufel bei mir?
    Ist es vielleicht diese wohlig warme Atmosphäre der gluckernden Ölheizung aus den Siebzigerjahren, die den Insekten eine Art Erdwärmeareal vorgaukelt und sie sich im Anschluss die zarten Füßlein verbrennen?
    Oder liegt mein Fensterbrett ausgerechnet auf zwei sich überlappenden Kontinentalplatten, die zwar für Menschen nicht wahrnehmbare Gase ausströmen lassen, jedoch für Ameisenvölker eine solch unausweichliche Anziehungskraft entfalten, dass es jeden Tag aufs Neue ein weiteres Volk zu einem Massenselbstmord animiert?
    Oder bin ich ohne mein Wissen so was wie »Der Herr der Ameisen«, und sie opfern sich zu meinen Ehren?
    Dann fällt mir plötzlich ein, dass es vielleicht auch einfach nur an dem Glas Rum-Cola liegen könnte, das ich mir vor ein paar Wochen nach einem Streit mit Steffi genehmigen wollte und aus Versehen verschüttete. O Gott, erst jetzt kommt mir der Gedanke, dass die armen Viecher vielleicht gar nicht tot, sondern einfach nur besoffen sind und ich sie in ihrem Rausch ermordet habe. Sie sitzen wahrscheinlich neben
meinem feuerbestatteten Hamster Goldi im Tierhimmel und schütteln alle verständnislos den Kopf darüber, wie ein einziger Mensch nur so bescheuert sein kann.
    Rrrrrring!
    Das Geräusch der Türklingel reißt mich aus meiner mörderischen Gedankenwelt, und ich fahre erschrocken herum. Eine nur allzu menschliche Reaktion gepaart mit einer unachtsamen Handbewegung, die jedoch fatale Folgen hat. Mit einem klackernden Geräusch, wie aufspritzende Kieselsteine sie am Bodenblech unter einem Auto erzeugen, verabschiedet sich nicht nur ein weiteres Volk der gemeinen europäischen Stadtameise von der Erdoberfläche, sondern auch sechs Euro in kleinen Münzen sowie mein brandneues Handy. Alles wie von Geisterhand vom Fensterbrett verschwunden oder sagen wir besser: fortgesaugt.
    »Scheiße«, entfährt es mir, dem ein weiteres Klingeln an der Tür folgt. Vielleicht ist Jutta ja von meinem Masturbationsauftritt so sehr angetan, dass sie mir das Ergebnis persönlich vorbeibringen möchte. Aber hätte sie nicht fünf Minuten früher klingeln können?
    »Ja«, rufe ich in die Sprechanlage, worauf es außen an der Tür klopft. Ich schaue durch den Spion und erwarte das Gesicht von Jutta, doch ich sehe Hubsi.
    »Hub… äh, ich meine Herr Scholl. Das ist aber eine Überraschung.«
    »Küss die Hand, Herr Süßemilch. Und entschuldigen S’ bittschön die Störung.«
    »Wie kann ich Ihnen helfen?«
    »Ob Sie mir wohl mit a bisserl Zucker aushelfen könnten?«
    »Zucker? Klar. Kleinen Moment.«
    Ich erspare mir einen dummen Zuckerkommentar à la: Sie sind mir wohl eher ein Süßer, was? , eile stattdessen in die
Küche und will gerade etwas Zucker abfüllen, als ein verräterisches Brummen an mein Ohr dringt. Entsetzt fahre ich herum, schnappe mir die komplette Zuckerpackung, stürze zur Tür

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