Weichei: Roman (German Edition)
Kochen.
»Man darf die Lebensmittel weder kochen noch braten noch backen.«
Oder ein Eremit mit um die Hüften gebundenem Büffelfell sitzt mit Mörser und Stößel bewaffnet in der Küche und zerreibt die Körner. Wir stammen von Jägern und Sammlern ab. Ich bin ein Jäger – zu Gast bei Sammlern.
»Aber kalt geräuchert ginge.«
Vielleicht ein Schamane, der Voodoorituale mit Waldkräutern und psychedelischen Hülsenfrüchten feiert? Nee, der würde zumindest das Blut eines abgeschlagenen Hühnerkopfs für seine Rituale benötigen, und das dürfte wohl kaum den internationalen Rohkostregeln entsprechen.
»Aber da gibt es immer verschiedene Definitionen.«
Jetzt hab ich’s. Der Pfleger aus dem Bärenhaus. Er kennt sich bestens mit dem Körnerkram, dem kalt geschleuderten Honig und den Nüssen aus. Und wenn was übrig bleibt, bekommt’s der Kragenbär morgen zum Frühstück.
Doch die Ökobedienung zerstreut meine Gedanken, als sie nach nicht einmal fünfzehn Minuten bereits mit dem Essen zurückkommt. Was zwar irrsinnig schnell, aber auch kein Wunder ist, da Gras und Baumfrüchte eben deutlich schneller brennen als ein Schwein oder eine Kuh.
»Wünsch euch ’nen guten Appo.« Die Bedienung stellt unsere Essenswahl auf den Tisch. Auf meinem Teller befindet sich eine Art platt gesessener Meisenknödel in der Größe einer Abendmahloblate.
»Lecker.« Voller Vorfreude reibt sich Jana die Hände.
Und auch ich reibe mir etwas … nämlich die Augen, um den Mini-Meisenknödel überhaupt erkennen zu können. Meine Freude hält sich in überschaubaren Grenzen, und ich brumme Jana etwas zu, das man nur mit viel Wohlwollen als Zustimmung interpretieren könnte.
»Sieht doch super aus, oder?«
Was für eine Frage! Wenn man eine platt gefahrene Hauskatze am Straßenrand mit Sieht doch super aus tituliert, dann ja. Mein Meisenknödel weist zwar keinerlei Reifenprofilspuren auf, doch selbst eine noch so ausgehungerte Winter-Amsel würde wohl den grausamen Hunger- und Kältetod diesem Hülsenfruchtmassaker vorziehen.
Während Jana bereits damit begonnen hat, ihr Hirsotto mit Waldpilzen zu verspeisen, wäge ich noch ab, ob ich Messer und Gabel oder doch lieber einen Löffel als Waffe wählen soll. Die beste Möglichkeit wäre zweifelsohne das Aufpicken der Körner mittels eines mobilen Schnabels, doch diesen entdecke ich trotz ernsthaften Interesses nicht neben dem restlichen Besteck auf dem Tisch.
Mit einer nie zuvor erlebten Langsamkeit führe ich die erste Gabel des Meisenknödels zu meinem Mund und beginne zu kauen. Eine weitere Tugend, die ich beim Essen meist zu vernachlässigen weiß. Ich gehöre eher zu den Schlingern als zu den Kauern. Aber wenn ich schon Nahrung mit dem Gesichtsausdruck einer Kuh aufnehme, kann ich mich auch beim Vertilgen der Nahrung wie eine solche verhalten.
Kauen.
Schön langsam.
Und ich kaue.
Dreißigmal.
Schööön langsam.
Ich kaue nicht menschenlangsam. Es ist vielmehr die Art von Langsamkeit, wie die Kontinentalplatten kaum messbar aufeinander zudriften oder ein Gletscher sich über Jahrzehnte schwerfällig gen Tal schiebt.
»Schmeckt’s nicht?«, fragt eine deutlich schneller kauende Jana. Sie sieht etwas besorgt aus.
»Doooch«, lüge ich und zwinge mich, das überzeugendste Lächeln auf mein Gesicht zu zaubern, das diese Situation hervorbringen kann. »Wirklich. Ist gar nicht schlecht.«
Doch die Wahrheit sieht anders aus: Ich habe Hunger, lebe im 21. Jahrhundert, inmitten einer zivilisierten europäischen Großstadt, und dennoch kaue ich wie im Mittelalter auf einer
körnigen Hülsenfrucht herum. Aber ich mag Jana, und so kaue ich. Für sie. Das Leben. Und die Liebe.
»Freut mich.«
Apropos Mittelalter. Gab es da nicht eine verheerende Krankheit, die einen Großteil der deutschen Bevölkerung auslöschte und die durch verdorbenes Getreide übertragen wurde?
Exakt in diesem Moment glaube ich mich an kleine schwarze Punkte bei einigen Hirsekörnern zu erinnern.
Und schon im nächsten Augenblick wird es mir plötzlich schummrig und übel.
»Ich finde, man sollte öfter mal einen Körnertag einlegen.«
»Unbedingt.« Ich nicke, denke dabei aber eher an einen Doppelkorntag, streiche mir über den Bauch und erinnere mich, dass auch Wahnvorstellungen zu den Symptomen der Seuche zählten.
»Mensch, da bin ich aber beruhigt, dass du das gerne isst. Ich wollte erst mit dir zu Surf ’n’ Turf , diesem Steakhaus im Westend. Kennst du das?«
Das Wort Steakhaus
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