Weil du mich siehst
nahm er ihre Hand und geleitete sie die Treppe hinunter. Er hatte einen Park in der Nähe herausgesucht, in den er sie brachte. Sie nahm nicht einmal ihren Blindenstock mit, so sehr vertraute sie ihm. Sie hakte sich bei ihm unter und sie machten sich auf den Weg.
»Ich rieche den Herbst«, sagte Paula. Sie trug einen dunkelroten Mantel, der ihr umwerfend stand, warme Stiefel und eine schwarze Mütze.
Finn schloss die Augen und roch die Luft. Ja, sie hatte recht. Er konnte es auch riechen – die Septembersonne, das Laub, die Herbstblumen.
Paula hörte, wie Finn tief einatmete und lächelte. »Liegen die Blätter schon am Boden?«
Finn nahm Paula bei der Hand und lief ein paar Schritte. Wagemutig ließ sie sich führen und trat bald in einen Haufen Blätter, der zusammengekehrt am Straßenrand lag.
Paula lachte. Das hatte sie ja schon seit Jahren nicht gemacht, durchs Laub tollen wir die Kinder. Sie sprang fröhlich in dem Haufen umher.
»He, was machen Sie denn da?«, schimpfte eine ältere Frau mit Hund. »Sie zerstreuen ja die zusammengeharkten Blätter wieder.«
Paula drehte sich in Richtung der Frau, die nun sah, dass sie blind war. »Es tut mir sehr leid, aber ich kann das Laub nicht mehr sehen, da wollte ich es wenigstens einmal fühlen.«
»Oh, ja … dann machen Sie ruhig weiter«, sagte die Dame betreten.
Paula lachte und hüpfte noch einmal. »Na, komm, Finn, gehen wir weiter. Ich bin gespannt, wo du mich noch hinführst.«
Ein Spätseptembernachmittag in Hamburg. Zwei glückliche Menschen schlenderten die Straße entlang. An sich nichts Außergewöhnliches, wenn diese Menschen nicht zum ersten Mal seit Jahren überhaupt wieder Glück empfunden hätten.
Sie erreichten den Park und gingen ein paar Wege entlang, bevor sie sich auf eine Bank setzten. Paula lehnte sich zurück und streckte die Beine aus. Sie atmete tief ein und sagte: »Ich wusste gar nicht, wie sehr ich das vermisst habe. Das Draußen-sein, das In-der-Sonne-spazieren-gehen. Diese kleinen Dinge, die soviel Bedeutung haben, die sogar noch an Bedeutung gewinnen, wenn man einen besonderen Menschen an seiner Seite hat.« Sie fühlte nach Finns Hand.
Finn reichte ihr seine Hand und verschränkte seine Finger mit ihren. Er genoss jede Minute dieses Nachmittags. Viel zu lange hatte er sich selbst in seine Wohnung eingesperrt. Er hatte alle Freunde aus den Augen verloren, vergessen, wie es war, jung zu sein. Dank Paula war nun alles zurückgekehrt. Dank Paula konnte er wieder atmen.
Er nahm ihre Hand und führte sie an sein Gesicht, er legte seine Wange in sie hinein und küsste sanft ihr Handgelenk. Es war die zärtlichste Geste, die man sich nur vorstellen kann.
»Finn, ich weiß nicht, was das zwischen uns ist oder was das Schicksal noch mit uns vorhat. Ich weiß nicht, wie viel Zeit uns miteinander geschenkt ist, aber ich möchte dir unbedingt Danke sagen. Ich danke dir für deine Zeit, für dein Vertrauen und für deine Zuneigung. Ich bin unendlich glücklich an deiner Seite.«
Da es etwas umständlich wäre, den Ärmel von Paulas Mantel hochzuschieben, schrieb er es auf ihren Handrücken: ICH DANKE DIR AUCH. DANKE, DASS DU MIR ZEIGST, WAS LIEBE IST.
Tief berührt kam Paula ihm näher und küsste ihn. Ohne Probleme fand ihr Mund zu seinem, ihre Zunge zu seiner, ihr Herz zu seinem. Was war dabei, wenn sie sich liebten? In diesem Moment waren sie die einzigen Menschen auf dieser Welt und ihre Herzen verschmolzen miteinander.
♥
In dieser Nacht ging Finn nicht nach Hause. Er blieb bei Paula, dem einzigen Menschen, dem er etwas bedeutete. Dem einzigen Menschen, der ihn sah.
Paula und Finn liebten sich. Liebten sich, wie sich noch nie zuvor zwei Menschen geliebt hatten – in Dunkelheit und ohne Worte. Berührungen, die alles ausdrückten, Küsse, die alles sagten. Liebkosungen, die sie erschüttern ließen. Gefühle, die viel zu lange eingesperrt waren und sich nun ihren Weg in die Freiheit bahnten.
Paula zeigte Finn, was Leidenschaft bedeutete, sie machte ihm zum Mann, sie lehrte ihm die Liebe. Zwei Menschen, die miteinander und ineinander verschmolzen und von nun an für immer Eins sein sollten.
Gespräche
Drei Tage lang waren sie unzertrennlich. Finn hatte von zu Hause ein paar Sachen geholt – Klamotten, Zahnbürste, Bücher und seine Gitarre, und hatte seinem Vater einen Zettel hingelegt, ob es okay wäre, wenn er eine Weile weg
Weitere Kostenlose Bücher