Weil du mich siehst
war fast aufgeregter als Paula. Er hatte ein Geschenk für Damian besorgt, ein ferngesteuertes Auto, über das er sich sicher riesig freuen würde.
Um elf Uhr holte Jens die beiden ab. Er stellte sich Finn vor und schüttelte ihm die Hand, so, als wäre alles ganz normal, als wäre er einfach nur der neue Freund seiner Schwägerin – und Paula liebte ihn dafür. Der Tatsache, dass Finn nichts antwortete, sondern nur lächelte, schenkte er gar keine Bedeutung.
Während der Fahrt erzählte Jens, was es alles Neues bei ihnen zu Hause gab. Paula hörte lächelnd zu, Finn betrachtete Paula. Er hatte seinen Block mitgenommen, um sich mit Sandra und Jens verständigen zu können. Ob Damian schon lesen konnte, wusste er nicht, und er war sensibel genug, Paula nicht danach zu fragen. Sie verpasste so viel im Leben ihres Sohnes, sie tat ihm unendlich leid.
»Wir sind in fünf Minuten da«, kündigte Jens an.
Finn hielt Paulas Hand ganz fest. Sie hatten beide ein wenig Angst.
»Sandra hat Hühnerfrikassee gemacht. Du magst doch Hühnerfrikassee, Finn?«, fragte er.
Finn konnte nicht antworten. Paula auch nicht, denn sie wusste nicht, ob er sie mochte.
»Finn, magst du Hühnerfrikassee?«, fragte sie ihn deshalb leise.
Er schrieb etwas auf ihren Arm.
Jens schien es ein wenig unbehaglich zu werden. Doch dann antwortete Paula auch schon: »Er mag Hühnerfrikassee, wenn keine Kapern drin sind.«
»Oh«, lachte Jens erleichtert. »Das weiß ich gar nicht. Falls welche drin sind, pul sie einfach raus.«
Paula lachte jetzt auch und drückte Finns Hand. Sie war ganz schwitzig. Mutete sie ihm mit diesem Besuch auch nicht zu viel zu? Sie wusste, dass er für sie mitgekommen war, aber wollte er auch wirklich hier sein?
Eine Stunde später war Paula sich sicher, dass die Idee eine gute gewesen war. Finn verstand sich inzwischen super mit allen. Er schrieb seine Fragen und Antworten auf seinen Block und Sandra las sie noch einmal laut vor, damit Paula auch an der Unterhaltung teilhaben konnte.
Damian mochte Finn von Anfang an, mit dem Rennauto hatte Finn sich gleich beliebt gemacht. Nach dem Mittagessen ließ Finn zusammen mit Damian, Julian und Lilly Drachen steigen. Auch wenn Paula nicht dabei zusehen konnte, so konnte sie doch hören, wie viel Spaß sie miteinander hatten. Finn lachte sogar fröhlich und ausgiebig, so, wie sie es nie zuvor von ihm gehört hatte. Man konnte nicht anders als mitlachen.
Als sie später alle auf einer Decke im Garten saßen, fragte Damian Finn: »Warum kannst du eigentlich nicht sprechen?«
Finn wurde traurig, Damian erinnerte ihn an Barne. Paula spürte seinen Kummer und antwortete für ihn: »Weißt du, Damian, das ist nicht leicht zu erklären. Finn hat an einem einzigen Tag gleich zwei Dinge verloren: seinen Bruder und seine Stimme.«
Damian sah Finn an und sagte: »So wie ich. Ich hab auch an einem einzigen Tag zwei Dinge verloren: meinen Papa und meine kleine Schwester.«
Paula musste sich zur Seite drehen, damit Damian nicht sah, wie sie weinte. Finn legte seinen Arm um ihre Schulter, er würde ihre Stütze sein, wann immer sie eine brauchte.
♥
Der Tag mit Damian war wundervoll gewesen. Am Abend lagen Paula und Finn noch ganz berauscht im Bett und dachten an die vielen schönen Momente zurück.
In dieser Nacht sprach Finn – im Traum. Er schlief ganz unruhig und flüsterte: »Nein, nein … nein, Paula, bleib bei mir … nein … Paula, nein ...«
Paula hörte ihn und dachte erst, sie träume selbst. Überrascht setzte sie sich auf und rüttelte Finn sanft. »Wach auf, Finn, wach auf. Es ist alles gut.«
Finn schlug die Augen auf. Er war schweißgebadet und tief erschüttert. Paula fühlte, wie er zitterte, das ganze Bett bebte. Sie umarmte ihn, hielt ihn so fest sie konnte. Finn klammerte sich an sie.
»Finn, Schatz, was ist denn nur passiert? Was hast du geträumt?«
Finn versuchte, seine Worte auf ihren Arm zu schreiben, doch seine Hand zitterte so, dass er nichts zustande brachte. Verzweifelt und wütend gab er es auf und ließ ihren Arm fallen. Er stand auf und ging zum Fenster, wo der Mond die Nacht mit seinem Licht erhellte.
Wütend stand er da und schnaubte und sah auf die verlassene Straße hinunter.
»Finn. Weißt du, dass du gesprochen hast?«
Jetzt drehte er sich um und sah Paula an, die in ihrem langen weißen Nachthemd in ihrem Bett saß und ihn
Weitere Kostenlose Bücher