Weil wir glücklich waren - Roman
sehr ich sie verletzt hatte und wie sehr sie vorher verletzt worden war.
»Ich nehme es zur Kenntnis. Und jetzt geh bitte.«
Ich hob einen Finger und überlegte. Auch heute Morgen bei der Prüfung hatte ich mich abgeplagt, um Lösungen für dieses oder jenes Problem zu finden. Die meisten waren falsch gewesen. Aber nicht alle. Also dachte ich angestrengt nach.
»Und wenn ich gehe?«, fragte ich. »Wenn ich gleich jetzt gehe und verspreche, in den nächsten Stunden nicht zurückzukommen? Ich meine, ich bin das Problem, nicht das Zimmer, oder?«
Treffer. Sie zog die Augenbrauen hoch. »Das würde gehen«, räumte sie ein.
Ich ergänzte, dass ich ein paar Minuten bräuchte, um meine Sachen zu holen. Kleine Schritte, sagte ich mir. Sie würde mir nicht von einem Moment auf den anderen verzeihen. Und darum ging es auch gar nicht. Sie brauchte Gesellschaft mehr als ich, und wenigstens das war ich ihr schuldig.
In meinem Zimmer griff ich mir Tasche, Mantel und Schlüssel und teilte der Allgemeinheit mit, dass ich eine Weile wegmüsse und Marley gleich käme. Meine Mutter und Gretchen beobachteten mich, aber keine von beiden sagte etwas. Ich wusste nicht, wohin ich sollte, was ich mit diesem Nachmittag anfangen würde.
Bevor ich das Wohnheim verließ, schaute ich in Gordon Goodmans Büro vorbei. Er runzelte die Stirn, als die Worte Kerze und Papiertüte in einem Satz vorkamen. Aber als ich ihm von Inez erzählte und wie viel Heimweh sie anscheinend hatte, kratzte er sich am Kinn und machte ein nachdenkliches Gesicht.
»Heute Abend?«, fragte er. »Ihr wollt sie heute Abend rausstellen?«
»Heute Abend wäre am besten«, erwiderte ich. Wenn wir erst Formulare ausfüllen und eine Woche warten müssten, hätte Inez recht: Der Ort, an dem wir lebten, würde uns nicht wie unser Zuhause vorkommen.
»Ich muss ein paar Anrufe machen«, sagte er. »Komm rein und setz dich.«
Auf seinem Schreibtisch hatte er einen hohen Stapel Papiere und einen Taschenrechner, aber er schob beides beiseite. Ich schlug vor, ich könne die Anrufe selbst erledigen, wenn er mir sagte, wen ich anrufen sollte, und mir die Nummern gab. Er schien sich über das Angebot zu freuen, lehnte es aber ab. Die Hausverwaltung würde mit ihm persönlich sprechen wollen, erklärte er. Und wegen der vielen blöden Fehlalarme kannte er fast jeden bei der Feuerwehr.
»Ich finde es toll, dass du das machst«, lobte er, das Telefon zwischen Kopf und Schulter geklemmt. Sein Lächeln war so anerkennend, dass ich ein schlechtes Gewissen bekam. Er dachte, die Idee würde von mir stammen. Ich konnte ihm nicht sagen, dass meine Mutter diejenige war, die alles organisiert hatte, oder dass sie meinen Job nach nur zwei Tagen besser machte als ich nach vier Monaten. Während er vier Anrufe tätigte und dafür ganze fünfundzwanzig Minuten am Telefon hing, war alles, was ich tun konnte, dazusitzen und ein dankbares Gesicht zu machen. Ich war dankbar und trotz meiner kleinen Schwindelei ermutigt. Manche Leute würden sich immer für einen ins Zeug legen, wenn sie merkten, dass man sich wirklich Mühe gab.
Als die offizielle Genehmigung kam, schickte ich Gretchen eine SMS, sie dürften die Lichter abends draußen aufstellen. Ich hätte auch anrufen können und somit vielleicht die Reaktion der anderen auf die Neuigkeit gehört, aber als ich aus Gordons Büro ging - vorbei an den piepsenden Videospielen in der Lobby und hinaus in den Nachmittag -, fühlte ich mich so wach und innerlich so ruhig, dass ich mit niemandem reden wollte. Der Himmel war immer noch klar und die Luft kalt, aber als ich erst einmal unterwegs war, fühlte ich mich wohl.
In dem Laden bot man mir zwei Möglichkeiten an: Ich konnte für mein Chemiebuch Bargeld bekommen - dreißig Prozent des Kaufpreises - oder vierzig Prozent in Gutscheinen. Ich kaufte mir ein gebrauchtes Exemplar von Middlemarch, Kaugummi, einen Hundekuchen aus organischer Erdnussbutter in Form einer Zuckerstange und einen herabgesetzten roten Strickschal.
»Wollen Sie es wirklich nicht behalten?«, fragte der Mann an der Kasse. Er strich über den Einband des Chemiebuches. »Es scheint Sie ein bisschen traurig zu stimmen, es herzugeben.«
Ich hätte zwar nicht gesagt, dass ich traurig war, aber mir war durchaus bewusst, was ich da gerade tat. In diesem Moment dachte ich nicht mehr bloß daran, aufzugeben, ich beschloss auch nicht, dass ich aufgeben sollte - ich gab tatsächlich auf. Und es war schwer, dieses dicke Buch anzuschauen und
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