Weil wir glücklich waren - Roman
lauschte auf den brummenden Motor und das Quietschen der Scheibenwischer. Alles in Ordnung. Alles würde gut gehen. Er hatte mich einfach nur nicht gehört.
Er beugte sich vor und fing meinen Blick ein. Auf der linken Wange hatte er einen tiefen Kratzer. »Du bist doch nicht sauer, oder?«
»Nein«, sagte ich. Im Spiegel erhaschte ich einen Blick auf mich. Etwas an meinem Gesichtsausdruck ließ mich an meine Mutter denken. »Es gibt ja noch eine Ausfahrt Richtung Lawrence. Ich steige einfach da aus.«
Ein Auto überholte uns und schleuderte mit seinen Reifen Matsch hoch. Es sah klein und flach aus.
»Magst du nicht mehr reden?«
Ich schüttelte den Kopf und schaute immer noch weg. Jetzt fielen winzige Schneeflocken. Sie prallten gegen den Außenspiegel, schmolzen und zerflossen. Ich hielt nach der nächsten Abfahrt Ausschau.
Er wartete ab, bis die Scheibenwischer ungefähr zehnmal hin- und hergeglitten waren, ehe er weitersprach.
»Du hast bestimmt einen Freund.«
Das war das erste Mal, dass seine Stimme überhaupt nicht freundlich klang. Vor allem das Wort Freund klang nicht freundlich. Ein Anflug von Vorwurf schwang darin mit, eine gewisse Gereiztheit. Alles in mir erstarrte, mein Atem, mein Herzschlag ...
»Ach so, jetzt willst du mir nicht mal das sagen?«
Selbst wenn ich gewollt hätte, hätte ich ihm nicht antworten können. Mein Kiefer war verkrampft, meine Zunge klebte am Gaumen, und ich wollte nicht antworten. Es war schwer zu sagen, was klüger wäre, ein Ja oder ein Nein. Ich dachte an Tim. Er war mittlerweile längst unterwegs nach Chicago, nördlich des Unwetters, und ahnte nichts. Ich sah sein Gesicht vor mir und fühlte Tränen in mir aufsteigen.
»Ich wette, du hast einen«, sagte er. Er blies die Backen auf und stieß einen langen, bekümmerten Seufzer aus. »Ich wette, wenn er dich darum bittet, sprichst du mit ihm.« Eine Pause entstand, man hörte nur das Geräusch der Scheibenwischer. »Ich wette, du machst so ziemlich alles.«
»Dort ist eine Ausfahrt«, versuchte ich es und streckte wieder Arm und Zeigefinger aus. Ich sah ihn so unbefangen wie möglich an. »Das ist die letzte Ausfahrt Richtung Lawrence. Dort muss ich aussteigen.«
Er schaute mich nicht an, und ich wandte mich zum Fenster und sah zu, wie wir an der Ausfahrt vorbeifuhren. Ich blickte nach unten auf die weit entfernte Fahrbahn, die unter uns dahinjagte. Wieder schaute ich in den Außenspiegel. So ging das also. So ein Gefühl war das also. Ich war eine Fliege im Spinnennetz, ein Bär in der Falle. Ich hatte die falschen Entscheidungen getroffen - vielleicht auch nur diese eine -, und zum Umkehren war es zu spät.
Er schwieg so lange, dass ich mich schließlich wieder zu ihm umdrehte. Seine Hände umklammerten das Lenkrad, und er saß kerzengerade. Seine Atemzüge waren lang und tief - irgendwie entschieden -, und seine Nasenflügel bebten, wenn er einatmete. Er schien selbst Angst zu haben, aber ich wusste nicht, ob das gut oder schlecht war.
»Sie müssen mich rauslassen«, sagte ich, wobei ich mich dazu zwang, leise und ruhig zu sprechen.
Er schluckte und nagte dann an seiner Unterlippe. Die Scheibenwischer fuhren immer noch hin und her, obwohl es nicht mehr regnete.
»Sie müssen mich rauslassen. Fahren Sie einfach rechts ran. Lassen Sie mich aussteigen. Sie haben die Ausfahrten verpasst. Das ist kein Verbrechen.« Ich betonte das letzte Wort. »Aber ich möchte jetzt aussteigen.«
Er schüttelte den Kopf, ganz leicht nur - vielleicht, weil ihm einfiel, dass er mir nicht zu antworten brauchte. Ein anderer LKW überholte uns dröhnend. Der Fahrer starrte unverwandt nach vorne. Wir fuhren an den westlichen Außenbezirken von Lawrence vorbei, den neuen Wohngebieten, wo Häuser mit großen Rasenflächen und Garagen für drei Autos standen. Ein Haus war bereits weihnachtlich geschmückt, im Vorgarten stand ein Engel, der eine Trompete hielt, und an der Tür hing ein Adventskranz.
»Ich will raus«, bat ich wieder und schloss dann - als ich hörte, dass meine Stimme zu kippen drohte - den Mund. Ich wandte meinen Kopf ab. Wie von selbst tauchten meine Eltern vor meinem geistigen Auge auf und meine Schwester auch. Ich sah uns alle auf dem letzten Familienporträt, das vor der Scheidung gemacht worden war. Meine Mutter und mein Vater standen Arm in Arm hinter Elise und mir, die Hand meiner Mutter lag auf meiner Schulter, die meines Vaters auf der von Elise, und meine Schwester und ich standen wiederum so nahe
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