Weinland & Stahl
besehen hatte Marisa das auch geglaubt. Die allermeisten der Dinge hier hatten ausgesehen, als stünden sie schon seit Jahren hier.
Doch jetzt, da sie allein versteckt in der Finsternis und hinter allerlei schimmelbewachsenem Unrat kauerte, gebar die Angst stets neue Gedanken, einer furchtbarer als der andere.
Der schrecklichste von allen jedoch saß ihr schon die ganze Zeit über im Nacken. Marisa kannte ihn, weil sie ihn sich notgedrungen selbst aufgeladen hatte: Der Gedanke daran, dass er kommen würde, um sich seinen Lohn zu holen. Seinen Lohn dafür, dass er sie an Bord der NOSTROMO gebracht hatte, damit sie nach Alaska gelangte.
Die Gänsehaut, in der Marisa nun bereits seit Stunden steckte wie in viel zu engen und feuchtkalten Kleidern, wurde noch ein bisschen enger, und der Kloß in ihrem Hals wucherte, so dass sie fürchtete, er würde ihr vollends den Atem rauben.
Wieder fragte sie sich, ob das Ziel den Preis lohnte. Und wieder versuchte sie sich hartnäckig, aber mühevoller als noch beim vorigen Mal davon zu überzeugen,
dass
es so war.
Pete war alles, was noch von ihrer Familie übrig war. Eine Zeitlang hatte Marisa nach dem Tod ihrer Eltern versucht, sich mit der plötzlichen Einsamkeit zu arrangieren. Mit ihr zu leben. Ein neues Leben auf den Trümmern des alten aufzubauen.
Doch sie hatte dabei nur eines gelernt: Dass man sich in einer Stadt wie New York anstrengen konnte, wie man wollte – wenn man die Allgewalt des Molochs gegen sich hatte, kam man trotzdem nie und nimmer mehr auf die Beine. Nicht allein, nicht ohne Hilfe. Und es war niemand dagewesen, der ihr auf die Füße geholfen hätte. Niemand wollte das Risiko eingehen, sich im Versuch, ihr die Hand zu reichen, mit hinab ziehen zu lassen in den Morast, der unter dem dünnen Glitzerschein lauerte, den alle Welt für das wahre New York hielt.
Vielleicht hatte ihr Bruder Pete den richtigen Weg eingeschlagen. Er war nach Alaska gegangen, hatte dort sein nie näher benanntes Glück finden wollen. Ob er es gefunden hatte, wusste Marisa nicht. Der Kontakt zu Pete war vor Monaten abgerissen. Aber sie hoffte es. Und sie hoffte weiter, dass Petes Glück groß genug war, damit ein Stück, ein winzig kleines nur, für sie davon abfallen konnte.
Wie sie den verlorenen Bruder in der gewaltigen Weite Alaskas ausfindig machen wollte, wusste Marisa noch nicht. Darüber konnte sie sich den Kopf zerbrechen, wenn sie erst da war.
Wenn
sie nur endlich da wäre...
Für ein paar Minuten hatte Marisa die Finsternis ringsum und all das, was sie an Furchteinflößendem beherbergte, vergessen können. Die Gedanken an Pete und ein vielleicht besseres Leben hatten genügt, ihr etwas wie Geborgenheit und Hoffnung zu suggerieren. Doch ein Geräusch, das sich nicht in die rumorende Klangkulisse um sie her einfügen wollte, hatte sie aus ihren Wachträumen gerissen.
Ein dumpfer Schlag war auf der anderen Seite des stockdunklen Raumes aufgeklungen und wieder verstummt. Und war nicht auch, für einen ganz kurzen Moment, ein fahler, kaum sichtbarer Lichtschein durch die Schwärze gegeistert? Als wäre die Tür nach draußen geöffnet worden? Und dieses seltsam weiche und doch metallene
tock tock tock
, klang es nicht wie... Schritte, die sich ihrem Versteck näherten?
Marisa schluckte, und obwohl sie darauf vorbereitet gewesen war, begann sie zu zittern, als hockte sie nicht hier in der relativen Sicherheit des Schiffsbauches, sondern nackt draußen im tobenden Sturm, der nach wie vor mit Brachialgewalt gegen die Stahlwand in ihrem Rücken anging.
Musste sie nun die erste Rate für ihre Passage zahlen?
Kam er jetzt?
Ein Schemen, der sich selbst in der völligen Finsternis noch dunkler abzeichnete, schob sich heran.
Etwas
kam...
Sie hatten den Homunkulus nicht gefunden.
Weder tot noch lebend.
Und auch keinen Hinweis auf seinen Verbleib.
Das Feuer in der
Church of St. Margret
war fast schon verloschen gewesen, als Heaven mit Reuven Lamarr im Schlepp sie betreten hatte. Die Flammen hatten das feuchte Holz der Bänke eher verkohlt denn verbrannt; nur die wenigen Teppiche auf dem steinernen Boden und ein paar Figuren waren wirklich ein Raub des Feuers geworden.
Selbst die nackte Leiche des Priesters, Father Cyrill, wie Heaven von Reuven erfahren hatte, war verschont geblieben.
Dafür hatte Heaven sich gefühlt, als würde ihre Haut heißer und heißer werden. Als liefe sie über die fast glühende Platte eines riesigen Herdes. Der geweihte Boden unter
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