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Weiskerns Nachlass

Weiskerns Nachlass

Titel: Weiskerns Nachlass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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sie Stolzenburg von oben bis unten, dann wendet sie sich zu Patrizia, um zu bezahlen. Die beiden Frauen vereinbaren einen neuen Termin. Patrizia bringt sie zur Tür und bittet die nächste Kundin, die auf einem Stuhl vorn im Friseursalon sitzt, noch eine Minute zu warten.
    »Willst du einen Kaffee?«
    Er schüttelt den Kopf.
    »Einen Orangensaft? Ich kann dir auch einen Joghurt anbieten.«
    »Danke. Joghurt hatte ich gerade«, sagt er und lacht auf.
    »Warum lachst du?«
    »Nichts von Bedeutung«, sagt er.
    »Also, in einer Stunde? Holst du mich dann ab?«, fragt sie nochmals.
    Stolzenburg ist unschlüssig. Er will nicht eine Stunde vertrödeln und sagt schließlich, er habe eingekauft und werde nach Hause fahren, um die Sachen in den Kühlschrank zu legen. Zu Hause werde er auf sie warten, wenn sie Lust habe, könnten sie ins Kino gehen.
    Sie ist enttäuscht, nickt aber und verspricht, pünktlich zu sein.
    »Such uns einen schönen Film raus«, sagt sie zum Abschied. Er nickt und küsst sie flüchtig auf die Stirn.
    Er fährt schnell, doch vor jeder Straßenkreuzung bremst er, für heute hatte er genug Niederschläge undKollisionen, zudem verdunkeln schwere Regenwolken den Himmel, und es hat angefangen zu dämmern. Er hat nur noch ein paar Hundert Meter und ist auf den Gehsteig gewechselt, da die Straße jetzt mit Kopfsteinen gepflastert ist und keine Fahrradspur besitzt, als mehrere Leute vor ihm auftauchen und ihm entgegenkommen. Sie nehmen den ganzen Gehsteig ein, so dass er ihnen nicht ausweichen kann. Stolzenburg bremst und steigt vom Rad. Es ist eine Gruppe junger Mädchen, fünf oder sechs, er schiebt das Rad an den Gehwegrand, um sie vorbeizulassen. Er beugt sich über das Vorderrad, um den Dynamo einzuschalten. Plötzlich sagt jemand in seinem Rücken halblaut und drohend: »Hey, du Arsch.«
    Stolzenburg schrickt zusammen, er erkennt sofort die Stimme. Es ist die Rothaarige, das Leithühnchen von vorhin. Er weiß nicht, ob die Mädchen ihn verfolgt haben oder das erneute Aufeinandertreffen Zufall ist. Er fährt herum, die Mädchen haben ihn auf dem Gehweg umstellt, auf die Straße kann er nicht ausweichen, da ist das eigene Fahrrad ein Hindernis, er müsste es hochheben oder über es steigen, was beides unsinnig und lächerlich wäre. Er wendet sich um, eine Hand liegt auf dem Lenker, um das Rad festzuhalten. Die Kinder schauen ihn triumphierend und lauernd an. In seinen Seminaren würde er eine so kritische Situation mit Ironie und beißendem Sarkasmus unterlaufen und dabei in Kauf nehmen, irgendwelche Studenten ungerechtfertigterweise zu kränken, doch bei den kleinen Mädchen vor ihm, weiß er, ist Ironie nicht angebracht, sie würden sie nicht verstehen, er würde sie nur noch mehr reizen.
    »So sieht man sich wieder«, sagt er und bemüht sich, locker zu wirken. Aus dem Augenwinkel versucht er zuerkunden, ob Passanten in der Nähe sind. Er bemerkt, dass auch die Mädchen sich umblicken, und er vermutet, sie halten gleichfalls nach möglichen Zeugen Ausschau. Die sechs starren ihn nach wie vor feindselig an, sagen kein Wort, ihr Blick wandert für winzige Momente immer wieder zu der Rothaarigen. Sie vor allem muss er im Auge behalten, mit ihr muss er sprechen. Er will sich nicht mit ihnen streiten, aber auch nicht von ihnen beleidigen lassen, er will mit seinem Fahrrad und den Einkäufen nach Hause. Er versucht, das bedrohliche Schweigen aufzulösen.
    »Das ist vorhin dumm gelaufen. Tut mir leid, aber ihr standet auf dem Fahrradweg, ich hatte keine Chance, euch auszuweichen.«
    »Das ist keine Entschuldigung«, sagt die Rothaarige und lächelt dabei tückisch. Sie weiß, dass er dabei ist, klein beizugeben, und genießt es vor ihren Freundinnen. Sie rücken nicht näher an ihn heran, weichen aber auch keinen Millimeter zurück. Um Hilfe zu rufen wäre lächerlich, denkt Stolzenburg, es sind Kinder, wer kann sich von kleinen Kindern bedroht fühlen. Gleichzeitig weiß er, dass sie ihn bedrohen.
    »Na, schön, dann entschuldige ich mich. Tut mir leid. Tut mir wirklich leid.«
    Die Rothaarige wirft einen triumphierenden Blick zu den Freundinnen. Dann lächelt sie katzenfreundlich Stolzenburg an: »Das reicht nicht, du Arsch. Du musst dich richtig entschuldigen.«
    Sie dreht sich zu ihren Freundinnen um und wiederholt: »Das reicht nicht, nicht wahr?«
    Eins der Mädchen, die kleine Dicke, die ihm nach ihrem ersten Aufeinandertreffen nachrannte, nickt heftig und begeistert, die anderen vier wirken verlegen

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