Weiss
Hebebühnenwagens in den Wald gesprungen war, hatte sie schon bald auf der Straße viele Fahrzeuge der Armee und der Polizei gesehen. Blieb nur zu hoffen, dass die nicht alle hinter ihr her waren. Sie musste sich möglichst weit vom Forschungsinstitut des Doktor Rostow entfernen, der Mann hatte gedroht, sie jahrelang als seine Gefangene festzuhalten.
Sabrina Pianini hatte keine Ahnung, wo sie umherirrte, aber sie wusste ganz genau, wohin sie wollte – nach Florenz zu ihrem Bruder Guido. Hoffentlich war es noch nicht zu spät. Am liebsten hätte sie sich ins Gebüsch fallenlassen, sie wollte ausruhenund versuchen mit all ihren Sinnen zu spüren, ob es Guido gut ging. Als Kind war ihr das manchmal gelungen, einfach so, von ganz allein. Sie erinnerte sich immer noch, wie sie in dem Moment eine unerklärliche Mischung von Angst und Sorge empfunden hatte, als Guido sich etliche Kilometer von ihr entfernt bei einem Sturz mit dem Fahrrad die Hand gebrochen hatte. Jetzt musste sie durchhalten und auch die letzten Kräfte in die Waagschale werfen.
Als vor ihr eine Straßenkreuzung auftauchte, blieb sie stehen. Doch so sehr sie auch die Augen zusammenkniff, die Namen auf den Straßenschildern ließen sich nicht erkennen. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als das Risiko einzugehen. Sie biss die Zähne zusammen und rannte so weit auf die Straße, bis sie den Text auf den Wegweisern sehen konnte: Rechts ging es nach Віцебск, links nach Орша und Магілёў und vorn nach Барьсаıў und Мінск. In der Richtung, aus der sie kam, führte die Straße nach Смоленск und Москва.
Москва– das klang auch mit lateinischen Buchstaben ein wenig wie Moskau. Sie las die anderen Namen noch einmal, Мінск könnte Minsk sein. Sabrina Pianini rannte mit letzter Kraft wieder in den Wald. Jetzt konnte sie wenigstens ihren Standort auf der Karte einordnen: vierhundertfünfundsechzig Kilometer von Moskau und zweihundertzwölf Kilometer von Minsk entfernt, der Hauptstadt Weißrusslands. Das war allerdings ein schwacher Trost, bis Minsk oder Moskau würde sie es nur per Anhalter schaffen.
Wütend trat Sabrina Pianini gegen einen Stein und fiel mit einem Aufschrei auf die stechenden Grashalme. Nun hatte sie auch noch eine blutende Wunde an der großen Zehe. Sie war müde, ihr Magen knurrte und die Hände zitterten, als hätte sie Schüttelfrost. Zwölf Stunden hatte sie nichts gegessen. Voller Angst fragte sie sich, wohin das alles noch führen sollte. Rasch steckte sie die Hand in die Hosentasche und vergewisserte sich, dassDoktor Rostows Unterlagen noch da waren. Sie musste eine Gelegenheit erhalten, all das irgendjemandem zu erzählen, Hilfe herbeizurufen, Guido mitzuteilen, dass …
Plötzlich hörte man ein metallisches Rattern. Sie lauschte angestrengt, das gleichmäßige, rhythmische Klappern wurde lauter – ein Zug. Und nach dem Geräusch zu urteilen wahrlich kein Hochgeschwindigkeitszug. Sabrina Pianini erhob sich taumelnd und rannte, so schnell es ihr schmerzender Fuß zuließ, in die Richtung, aus der das Rattern kam. Sie stürzte zweimal und verletzte sich an einem Ast das Handgelenk, dann sah sie ihn – einen Güterzug. Er fuhr im Schneckentempo. Es könnte ihr gelingen. Der Zug war schon zur Hälfte an ihr vorbeigerollt. Es dauerte noch eine Weile, bis sie den Rand des Bahndamms erreichte, auf dem groben Schotter fiel das Laufen schwer, sie verrenkte sich die Fußgelenke, die Lunge verlangte mehr Luft. Fast der ganze Zug hatte sie überholt, nur ein paar Waggons blieben noch übrig.
Sabrina Pianini streckte die Hand aus, ertastete mit den Fingerspitzen Metall und stürzte auf den Schotter. Als sie wieder aufstand, spürte sie, wie Blut die Beine hinunterlief, sie musste schnell in Schwung kommen, der letzte Waggon rückte immer näher. Sie streckte wieder die Hand aus, die Entfernung war zu groß, etwa zwanzig Zentimeter fehlten …
Da griff jemand nach ihrem Handgelenk.
9
Freitag, 13. August
Das COBR-Komitee, das man für den Fall von Terroranschlägen gegen Großbritannien geschaffen hatte, und das Joint Intelligence Committee JIC waren wegen des Bombenanschlags in Sellafield schon zusammengetreten. Das Joint Terrorism Analysis Centre JTAC hatte für Großbritannien die höchstmögliche Stufe der Terrorismusgefahr, »kritisch«, ausgerufen. Man erwartete jeden Augenblick einen neuen Anschlag. Die Hauptverantwortung für die operativen Ermittlungen zu dem Anschlag in Sellafield
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