Weiss
er allerdings auch nicht mehr, nun würde er jede Zurückhaltung fallen lassen. Die geräumige Wohnung war gefüllt mit wertvollen Gegenständen, einer schöner als der andere: Kristallschalen, Porzellanvasen, mundgeblasenes kunstvolles Glas, Gemälde invergoldeten Rahmen, Perserteppiche, Rokokomöbel. Schon seit dreißig Jahren sammelte er Schönes, nur um zu überdecken, wie hässlich seine Erinnerungen waren.
Er zog seine Schuhe aus, stellte sie millimetergenau ins Schuhregal, hängte seine Jacke an die Garderobe und ging ins Schlafzimmer, wo er sich splitternackt auszog. Im Bad rasierte er sich, beschnitt die Haare in den Nasenlöchern, zupfte sich die Augenbrauen und vollendete sein Werk, indem er die Körperhaare überall abrasierte, besonders genau unter den Achseln, im Genitalbereich und an den Unterschenkeln.
Alles war bereit. Für diese Augenblicke lebte er, das war für ihn das Salz in der Suppe.
Nackt ging Gilbert Birou in der Diele zu einer unauffälligen Tür, steckte den Schlüssel ins Schloss und betrat sein Ankleidezimmer, sein Boudoir, den »kleinen und eleganten Salon der Frau«, wie es Guy de Maupassant ausdrückte. Sein bescheidener Raum konnte sich natürlich nicht mit dem gewaltigen Boudoir Marie Antoinettes im Hameau de la Reine in Versailles oder dem blauroten Boudoir der letzten russischen Zarin Alexandra Fjodorowna Romanowa im Petersburger Alexanderpalast messen. Aber ihm genügte er.
Es fehlte nur noch, dass er sich zusammen mit seiner Mutter vorbereiten könnte, dann wäre alles perfekt gewesen. In seiner Kindheit hatten sie einander jeden Abend die Haare gebürstet, und er hatte oft ihre Nägel lackieren oder ihr für die Nacht das Gesicht eincremen dürfen. Er und Mathilde. Diese Momente hatten die Tyrannei des Vaters und das Leben in der toten Kleinstadt Penmarch fast erträglich gemacht. In diesen ganz intimen Augenblicken, in denen sie unter sich waren, hatten er und seine Mutter den Vater verspottet, einen engherzigen Stadtgärtner, der sich blödsinnige Regeln ausdachte und seiner Mutter und ihm alles verbot, was er verbieten konnte, alles was ihnen auch nur die geringste Freude oder Befriedigung verschaffte. Ihr Leben sollte sein wie Kartoffeln mit Fisch.
Die Wände des Boudoirs hatte er mit purpurner französischer Seide verkleiden lassen, die das Licht der Lampen dämpfte und in einem hellen Rot erscheinen ließ. Spiegeltisch, Diwan, Teppiche, Vorhänge, Möbel und sogar die Lilien und Orchideen in den Kristallvasen waren rosa.
Mit dem Lackieren der Zehennägel begann das Ritual, wie immer. Für sein Make-up verwendete er nur die allerbesten Erzeugnisse und vollendete es mit dem Puder Poudre Sur Mesure von Yves Saint Laurent. Das wichtigste Kleidungsstück waren die mit einer Gelfüllung gepolsterten Dessous, die ihm sowohl an den Hüften und am Hintern als auch an der Brust frauliche Kurven verliehen. Es folgten die Strumpfhosen von La Perla, das zeitlose schwarze Kleid von Givenchy und Schuhe von Dior. Dann zog er sich vorsichtig eine Echthaar-Perücke von Marie-Thérèse Lebeau auf den Kopf. Zum Schluss sprühte er Parfum Chanel N o 5 in die Luft und ging rasch mit leicht wiegenden Hüften durch die Parfümwolke. So hatte Mathilde das auch gemacht.
Als Make-up, Haar und Kleidung fertig waren, stellte er sich vor den Spiegelschrank, atmete tief ein und hängte sich die Handtasche an den Unterarm, eine Chanel 2.55, die Krönung des Ganzen. Jetzt war er bereit, jetzt war er Mathilde. Die Tasche hatte Mutter geliebt, sie war der einzige Luxusgegenstand gewesen, den sie besaß. Genau mit dieser Tasche fing damals auch seine Geschichte als Mathilde an. Nach dem Tod der Mutter hatte er ihre wenigen Habseligkeiten erhalten und die Tasche zuweilen in seiner Wohnung getragen, um seinen Schmerz und die Trauer zu lindern. Dann war er auf die Idee kommen, ihre alten Kleider anzuziehen, und schließlich hatte er sich in seine Mutter, in Mathilde, verwandelt. Sie war eine Träumerin gewesen und hatte zugelassen, dass ihr Mann sie allmählich erstickte. Birou fühlte sich immer noch auf schmerzliche Weise schuldig an ihrem Schicksal. Im Frankreich der fünfziger Jahre hätte eine Mutter ihren Sohn nicht mitnehmen dürfen, wenn sie ihren Mann verlassen wollte.All das hatte sie ihm erst bei ihren letzten Begegnungen im Krankenhaus anvertraut. Sie war wegen ihres kleinen Gilberts in Penmarch und bei Vater geblieben.
Gilbert Birou bewunderte sich im Spiegel. Genau so hatte Mutter damals
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