Weiße Geheimnisse: Historischer Roman (Hohen-Lützow-Saga) (German Edition)
ist jetzt bestimmt acht Jahre her, du warst noch ein kleines Mädchen von knapp sechs Jahren, als eines Tages ein Versorgungstrupp der Franzosen auftauchte. Das war der Albtraum eines jeden Bauern, ob groß oder klein, die Soldaten hatten nur eines im Sinn, nämlich Scheunen und Ställe leer zu machen. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie Herr Stein und der Herr Graf mit dem Offizier der Franzosen stritten. Zwar konnte ich nichts verstehen, weil die Herren in Französisch miteinander zankten – und ich kann dir sagen, ich habe nie wieder merkwürdigeres Geschnatter gehört – aber der gnädige Herr hatte letzten Endes klein beigeben müssen. Wir mussten mit ansehen, wie der größte Teil der Ernte und des Viehs weggeschleppt wurde. Wir älteren Frauen standen herum und schrien und heulten wie verrückt, weil wir glaubten, den Winter nicht zu überleben und es war auch hart an der Grenze. Aber wir haben überlebt und das Gut auch. Stein hat vorsorglich Saatgetreide verstecken lassen. Also heulte das Dorf den Froschfressern vor, nichts für die nächste Aussaat zu haben. Es gab ja auch nichts zu kaufen, weil das Riesenheer des Franzosenkaisers alles wegfraß, was ihm ins Maul gestopft wurde. Alle waren so beschäftigt mit dem eigenen Unglück, niemand bekam mit, was nebenher passierte. An diesem Abend, als der Spuk vorbei war und auch der letzte Soldatenrock – beladen mit den Früchten unserer Arbeit – verschwunden war, rannte Lorchen von Haus zu Haus und fragte nach Marie. Das ganze Dorf begann fieberhaft nach dem Mädchen zu suchen. Einige vermuteten, die Franzosen hätten sie verschleppt. Als es dunkel wurde, zündeten die Männer Fackeln an und durchkämmten rufend den Wald. Ende Oktober sind die Nächte bereits empfindlich kalt.“
Anne erschauerte bei dem Gedanken, nachts da draußen allein zu sein, aber sie unterbrach ihre Mutter bei der Rekapitulation der Ereignisse nicht.
„Nach Mitternacht kehrten die Suchenden unverrichteter Dinge zurück. Sie mussten der entsetzten Eleonore mitteilen, Marie nicht gefunden zu haben. Ich habe mir damals die Ohren zugehalten, konnte ihr Greinen nicht ertragen, das alle Wände durchdrang.
Sowie das Tageslicht graute, starteten die Männer und Burschen ihre Suche von neuem. Die Herrschaft hatte noch Besuch vom Nachbargut, der auch über Nacht geblieben war. Die hochwohlgeborenen Leute hatten Angst, den Fourieren über den Weg zu laufen. Sie brachen erst am Nachmittag des folgenden Tages auf. Die Kalesche rollte vom Hof und als sich der aufgewirbelte Staub zu legen begann, wurde auf dem Weg eine schmale Gestalt sichtbar. Das Mädchen schaute nicht links noch rechts, antwortete nicht, wenn es angesprochen wurde. Jemand hatte Eleonore Bescheid gesagt. Sie stürzte überglücklich auf ihr Kind zu, riss es an sich und brach vor Freude in Tränen aus. Marie sah übernächtigt, aber unversehrt aus, nur ihr teilnahmsloser Blick ließ Eleonore und die Umstehenden ahnen, dass irgendetwas nicht stimmte.“
Frau Jessen blickte ihre Tochter traurig an und zuckte mit den Achseln. „Seit dem Tag hat die Ärmste nie wieder ein Wort über ihre Lippen gebracht.“
„Ist niemals herausgekommen, was passiert ist?“, fragte Anne unter Tränen.
„Es wurde allerhand gemunkelt, sogar der Graf wollte über den merkwürdigen Zustand des Mädchens unterrichtet sein. Der gnädige Herr stimmte schließlich der Bitte der Eltern zu, Marie zu Verwandten schicken zu dürfen. So verbrachte Marie ein Jahr bei irgendeiner Großtante. Als sie aufs Gut zurückkam, hieß es, sie sei in der fraglichen Nacht geschändet und auch noch geschwängert worden. Das Kind soll tot zur Welt gekommen sein. Ich frage mich manchmal, ob der Herrgott das Unheil, das Marie zugefügt worden ist, mit dieser Fügung hat wiedergutmachen wollen.“ Frau Jessen verstummte und auch Anne blieb still unter dem Eindruck der Geschichte.
„Die Ärmste“, sagte sie nach einer Weile. „Warum hast du mir das nicht früher erzählt?“, fragte sie vorwurfsvoll. Jetzt schämte sie sich ihrer Hänseleien, die sie als unbedachtes Kind der Stummen nachgebrüllt hatte. Sie hoffte, Maries Zustand habe die junge Frau davor bewahrt, den Sinn der Gemeinheiten zu begreifen.
„Ich wollte dein Gemüt nicht belasten“, hörte Anne ihre Mutter sagen. „Die Welt ist voll von Grausamkeit.“ Frau Jessen seufzte. „Da du nun selbst über die Angelegenheit gestolpert bist, hab ich es dir eben erst heute erzählt; und jetzt sei so gut,
Weitere Kostenlose Bücher