Weiße Geheimnisse: Historischer Roman (Hohen-Lützow-Saga) (German Edition)
Konkretes?“ Ernst drehte sich zu Franz um und schaute ihn aufmerksam an. Er erinnerte sich, vor wenigen Tagen die ablenkende Wirkung von Fakten in Betracht gezogen zu haben, als es darum gegangen war, Franz aus seiner Grübelei zu reißen. Eine überaus gut wirkende Rezeptur, dachte er beeindruckt.
„Ich hoffe es“, sagte Franz. Er zog zwei Briefe aus seiner Rocktasche. Bevor er die Schriftstücke an Ernst weiterreichte, strich er noch einmal über das widerspenstige Papier.
„Schon wieder Briefe? Hast du noch ein Geheimfach entdeckt?“ Ernst stand auf und rückte einen Stuhl in die Nähe der Lichtquelle. Franz postierte sich in Ernsts Rücken und sah ihm über die Schulter.
„Nein, die lagerten bei der Post!“
„Ah, wieder Latein!“
Ernst hatte nur einen flüchtigen Blick auf den ersten Text geworfen, als er fragte: „Hattest du mir nicht erzählt, auf der Post einen Fehlschlag erlitten zu haben?“
„Ja schon. Dass die beiden hier vor dir liegen, verdanke ich einem einflussreichen Gönner.“
„Verstehe!“ Ernst vertiefte sich in die Zeilen und murmelte den Text stellenweise vor sich hin. Er schüttelte hin und wieder den Kopf, so als wollte der Sinn der Worte ihm nicht begreiflich werden.
„Was ist?“, fragte Franz besorgt.
Ernst stand auf und ließ Franz mit einem eilig hingeworfenen „Moment mal“ allein. Kurze Zeit später kehrte er mit einem Leuchter und einem weiteren Brief zurück. Er legte ihn neben das Schriftstück, das er hatte übersetzen wollen.
„Schau her, was fällt dir auf, ohne ein Wort des Inhalts zu kennen?“, fragte er Franz.
„Beide sind in derselben Handschrift verfasst!“
„Richtig. Den ersten Brief hast du in Johanns Sekretär gefunden?“
„Ja.“
„Gut. Ich bin leider noch nicht dazu gekommen, ihn zu übersetzen. Vorerst habe ich es dabei belassen, die Schriftstücke chronologisch zu ordnen. Dabei ist mir aufgefallen, dass dieser Brief, genauso wie der hier auf dem Tisch, weder einen Absender noch ein Datum trägt. Ich denke, es wird am besten sein, wenn ich mit dem älteren Pamphlet aus dem Sekretär anfange. Daraus mag sich auch der Sinn des zweiten ergeben.“
„Ja, das hört sich logisch an“, murmelte Franz beeindruckt. Er umrundete den Tisch und setzte sich möglichst geräuschlos. Er hatte seinen Platz so gewählt, dass er seinen Freund beobachten konnte. Ernsts Mienenspiel war weit mehr zu entnehmen als den lateinischen Buchstaben. Ernst stand jedoch noch einmal auf und kehrte kurz darauf mit Feder und Tinte sowie einem frischen Bogen Papier an den Tisch zurück.
Franz achtete auf jede Kleinigkeit, horchte, wie die Feder über das Papier kratzte, innehielt, Notizen ausstrich und durch andere ersetzte. Seine Unruhe steigerte sich, denn Ernsts Gesichtsausdruck verfinsterte sich mehr und mehr. Er hätte jetzt aufstehen und einen Blick auf den inzwischen in Deutsch verfassten Text werfen können, doch er fühlte sich nicht dazu imstande. Er redete sich ein, nicht einen Fuß vor den anderen setzen zu können, oder Ernst nicht stören zu dürfen. In Wahrheit fürchtete er sich davor, dass dort, auf der anderen Seite des Tisches, etwas Bedrohliches zu lesen stand.
Ernst ging die Zeilen des liederlichen Schriftbildes wieder und wieder durch, dabei benutzte er den Ziegefinger der linken Hand zur Orientierung auf dem Blatt. Schließlich nahm er den postlagernden Brief und beugte sich stirnrunzelnd darüber. Er schien vergessen zu haben, dass da jemand mit klopfendem Herzen gebannt über den Tisch starrte.
Nach einer Weile richtete sich Ernst auf. Er fasste Franz ins Auge, sich wundernd über dessen merkwürdig ruckartige Kopfbewegungen. Wie eine Schildkröte, dachte er, die ihren Hals aus einem zu engen Panzer windet.
Indessen mühte sich Franz, den hässlichen Kloß hinunterzuschlucken, der ihm die Kehle zuschnürte.
„Wer immer die Schreiben verfasst haben mag, ist deinem Bruder nicht gewogen“, sagte Ernst. Er nahm seine Notizen und schob sie ohne weiteren Kommentar über den Tisch.
Franz griff mit steifen Fingern nach dem Papier, staunte, zu der Bewegung überhaupt fähig zu sein und vertiefte sich in Ernsts Handschrift.
„Nachricht I.
Sie können versichert sein, in mir einen Freund gefunden zu haben, der die Unbotmäßigkeit Ihres Betragens ungestraft belässt.
Sie sollten sich jedoch der Tatsache bewusst sein, dass meine Toleranz nicht über Gebühr strapaziert werden darf. Schließlich könnte mein Zögern, Sie die
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