Weiße Geheimnisse: Historischer Roman (Hohen-Lützow-Saga) (German Edition)
selbstverständlich zu Linien auf.
War er ein Geist? War er bereits gefallen und beobachtete nun seelenlos die Ereignisse um sich her?
Seltsam, ich höre kein Artilleriefeuer, keine Gewehrsalven, kein metallenes Klirren, wenn Säbelklingen aufeinander einhieben, kein dröhnendes Hufgetrappel, keine Schreie, kein Stöhnen, kein Wimmern. Bin ich taub? Gehört Taubheit zur Seelenlosigkeit?
Ein aufreizender Trommelwirbel belehrte ihn eines Besseren. Taub war er jedenfalls nicht, obwohl heftiges Granatfeuer lautlos Lücken in die stoisch vorrückenden Soldaten riss.
Franz spürte plötzlich etwas Warmes am Unterschenkel, und sah, wie ein blutiger Fetzen geräuschlos wie alles um ihn herum auf dem Widerrist seines Pferdes landete. Beim genaueren Hinsehen erkannte er in dem Fetzen einen zerrissenen Arm. Bloßgelegte Muskelstränge zuckten krampfhaft, verbrauchten letzte elektrische Impulse. Er starrte auf das Stück Fleisch, das einmal einen Menschen befähigt hatte, die Finger einer Hand zu bewegen, den Abzug eines Gewehrs zu betätigen, den Körper einer Frau zu streicheln.
Vorbei! Zu blutigen Fetzen zerstückelt.
Beerdigt in einem Massengrab. Neben einen verstümmelten Körper geworfen, zu dem er nicht gehörte.
Die Soldaten waren fort. Der Boden, über den sie eben noch marschiert waren, lag da – aufgerissen von Geschosskratern, übersät mit menschlichen Körpern und Pferdekadavern. Rauchschwaden milderten den entsetzlichen Anblick, bedeckten grausige Details.
Ein unangenehmer Druck erinnerte Franz an seinen Unterschenkel, es schien, etwas stecke in seinem Stiefel, das dort nicht hingehörte. Der Schaft war durchschlagen. Ein Granatsplitter? Seltsam. Außer dem Druck spürte er nichts!
Ach ja, richtig, ich bin ein Entseelter, kam es ihm in den Sinn. Seltsamerweise beunruhigte ihn sein Zustand nicht über Gebühr. Er dachte nur, ein Granatsplitter, der im Fleisch stecke, tue dann wohl nicht mehr weh.
Franz stieg von seinem regungslosen Pferd, nur kurz blitzte die Frage in seinem Hirn auf, warum es so steif und still dastand.
Er setzte sich an den Rand eines Geschosskraters, neben ihm lag der Oberkörper eines Soldaten. Unterleib und Beine waren dem Mann von einer Granate fortgerissen worden. Der Soldat fixierte ihn mit einem starren Blick. Jedoch der friedvolle Ausdruck des Toten ließ Franz hoffen, der Unglückliche sei noch während des Wundschocks unter Ersparung grausamer Schmerzen vor den Schöpfer getreten.
Franz zog sich den Stiefel vom Fuß. Es gab nicht die üblichen Schwierigkeiten mit dem widerspenstigen Schaft. Der Stiefel glitt wie von selbst von seiner Wade. Im Schaftleder klaffte ein haselnussgroßes Loch, doch sein wie von Zauberhand entblößtes Bein war glatt und unversehrt. Er streifte sich den Stiefel über, dabei ertasteten seine Zehen einen Gegenstand. Er zog den Stiefel erneut herunter. Ein scharfkantig gezacktes Objekt fiel in seine hohle Hand. Er drehte es ungläubig hin und her, weil er einen geschwärzten Metallsplitter erwartet hatte. An einer Stelle offenbarte der blutige Gegenstand eine blank polierte, elfenbeinfarbene Oberfläche. Das Bruchstück erinnerte Franz an eine zersprungene Porzellanscherbe oder an zerborstenes Elfenbein. Als er begriff, was er tatsächlich in Händen hielt, umkrampften seine Finger den Splitter. Die scharfkantigen Grate schnitten in sein Fleisch. Er spürte Schmerzen, nicht in seiner Hand, sondern in seiner Seele, die zu ihm zurückgekehrt war.
Franz erwachte schweißgebadet. Schwer atmend saß er im Bett und starrte auf seine geballte Faust. Ganz langsam öffnete er die Finger. Seine Nägel hatten sich in den Handballen gegraben und dort halbmondförmige Male hinterlassen.
Aber der zersplitterte Backenzahn, das menschliche Geschoss aus Elfenbein, war verschwunden.
Er keuchte immer noch, sein Herz raste und nur allmählich realisierte er seine Umgebung. Das Fenster seiner Schlafkammer stand offen. Frische Luft und das unbekümmerte Morgenliedchen einer Drossel wehten zu ihm herein.
Franz sank erleichtert in die Kissen zurück und schloss für einen Moment die Augen, nur um sie gleich wieder aufzureißen. Der Wimpernschlag hatte genügt, die entsetzlichen Bilder des Albdrucks wiederkehren zu lassen.
Der Traum war nur ein verzerrtes Abbild der Wirklichkeit gewesen, die er in den vergangenen Jahren durchlebt hatte. Er dachte an den ledernen Brustbeutel, den er im nächsten Ort erworben hatte, nachdem die Toten der Schlacht von kalter Erde bedeckt
Weitere Kostenlose Bücher