Weiße Geheimnisse: Historischer Roman (Hohen-Lützow-Saga) (German Edition)
Schlagstöcken oder Degen bewaffnet und keine Lust auf Vorlesungen, die Herren Studiosi. Die städtischen Gefängniszellen reichten nicht aus, um all die Unglücklichen einzusperren, denen man am Vortage noch Amnestie versprochen hatte. Sogar Karzer und Auditorium der Universität wurden mit Gefangenen vollgestopft. Die Kommission machte allen den Prozess.“ Mutter Schultzens Gesicht hatte sich vor Empörung gerötet, ihre Augen funkelten lebhaft. „Neben öffentlichen Auspeitschungen und Anketten am Pranger wurden auch Stadtverweisungen ausgesprochen, Bürgerrecht und oder Vermögen entzogen und Gefängnis- und Zuchthausstrafen verhängt. Die Anschläge über die Urteile der Kommission hingen zur Abschreckung überall in der Stadt. Und so landete die zukünftige Tanner neben Tanner am Pranger.“
Sie schmunzelte wegen des unbeabsichtigten Reimes. „Tanner am Pranger, gut nicht?“, meinte sie. „Sie hatten besagte Schilder um den Hals. Der Tanner führte sich wie ein Wilder auf. Jedem, der es wagte, seiner Leidensgenossin mit Schimpf- und Schmähreden zu nahe zu treten, mit Unrat zu bewerfen oder anzuspucken, drohte er eine satte Tracht Prügel an.“ Mudder Schultzen lachte glucksend. „Der Held musste wegen ungenügender Demut während seiner Strafverbüßung noch einmal vor Gericht und anschließend ins Gefängnis. Das Mädel war dem Tanner für den Beistand so dankbar; sie konnte wohl nicht anders und verliebte sich in ihn. Das Ende vom Lied war: Die beiden heirateten nach seiner Entlassung. Ihre Hochzeit sorgte wochenlang für Stadtgespräche. Tja, schon nach kurzer Zeit wird es der Frau leidgetan haben, den Taugenichts zum Manne genommen zu haben. Außer ihr dauernd Kinder zu machen, sprich, die Familie zu vergrößern, interessieren ihn seine Angehörigen nämlich herzlich wenig. Alles, was der Mann verdient – und das kann nicht viel sein – trägt er ins Wirtshaus, lässt es dort durch seine Kehle laufen. Es ist ein Jammer. Sie haben ja die Mädelchen gesehen, beides brave Kinder, kommen nach der Mutter und arbeiten den lieben langen Tag.“
Franz erinnerte sich an den Kuss, den die kleine Johanna auf seine Wange gehaucht hatte, an den kaum spürbaren Abdruck schmaler trockener Lippen. Magere Ärmchen hatten sich um seinen Hals geschlungen.
Allerdings drängten sich auch noch andere Gedanken auf. Wenn seiner Wirtin, einer von Strafe Verschonten, die Beteiligung der Studenten an der Verfolgung der Aufrührer bitter aufgestoßen war, wie dachten dann die Betroffenen darüber. Gab es einen Zusammenhang zwischen damaligen Ereignissen und heutigen Rivalitäten? Spielte Sühne für altes Unrecht irgendeine Rolle? Forderte die Generation der Söhne nun Gerechtigkeit ein?
Franz dachte an den Toten, den in Rostock niemand zu vermissen schien. Ist er der Sohn eines Verurteilten, welcher der Stadt verwiesen worden war?
Franz erinnerte sich der Spannungen beim Souper. Der Krieg dürfte ebenso Anlass für diverse Feindschaften geliefert haben. Denunziationen von unbescholtenen Bürgern, die der Spionage verdächtigt worden waren, hatte es zur Genüge gegeben. Warum sollte so etwas in Rostock und Umgebung nicht vorgekommen sein?
Frieder konnte in dem Drama nicht mehr agieren. Entscheidend blieb, welche Rolle er bisher gespielt hatte. War er Hauptdarsteller, Statist, Anführer, Einzelkämpfer oder nur Opfer von Intrigen?
Nur – wie passte Johann in so eine Interessenlage. Mit Rostocker Ereignissen hatte die Familie von Klotz nie zu tun gehabt.
Es sei denn, es war zu Lagerbildungen gekommen, und Johann war aus Sympathie oder als Mitläufer in die eine oder andere Partei hineingeraten. Was war da im Gange? Eine Art Bandenkrieg zwischen Stadtjugend und Studentenschaft?
Aber Frieder war selbst Student gewesen und noch dazu ein sehr begabter. Er hätte, wenn ihm seine Gesundheit und die Pläne des Herrn nicht in die Quere gekommen wären, gewiss eine passabel dotierte Anstellung angetreten. Hatte er gewusst, ihm bleibe keine Zeit für eine Investition in die eigene Zukunft? Hatte er sich auf kriminelle Machenschaften verlegt, um Mutter und Geschwister sogar noch mit seinem Ableben zu unterstützen?
Frieder Rache als Motiv unterzuschieben, blieb aber fragwürdig. Wen sollte er rächen? Die Mutter? Sie hatte ihre Stunden am Pranger schwerlich in den Mittelpunkt ihres Lebens gerückt. Zweifellos war sie viel zu beschäftigt, um sich Kränkungen zu Herzen zu nehmen. Oder verfluchte Frieder den bewussten Tag so
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