Weiße Geheimnisse: Historischer Roman (Hohen-Lützow-Saga) (German Edition)
mussten.
Die Kirche war gut besucht, Mudder Schultzen zwängte sich auf eine Bank, die von der Kanzel nicht gut eingesehen werden konnte. Warum sie das tat, blieb vorerst ihr Geheimnis.
Franz erinnerte sich etwas beklommen an den letzten Sonntag. War seitdem wirklich erst eine Woche vergangen? Er meinte, bereits seit längerem in Rostock zu weilen. Die Fülle der Ereignisse der letzten Tage, Hoffnungen, Spekulationen und nicht zuletzt Enttäuschungen trübten sein Zeitgefühl.
Franz schnüffelte. War es Einbildung oder hatte er einmal mehr Verwesungsgeruch in der Nase?
Um sich abzulenken, betrachtete er interessiert das Innere der Basilika. St. Jakobi war wirklich etwas Besonderes. Zwar hatte er die anderen Kirchen der Stadt noch nicht in Augenschein genommen, aber die Ausgestaltung des Doms wich von allen anderen Gotteshäusern ab, die er bisher im norddeutschen Raum aufgesucht hatte. Der Dom war ebenso aus Backsteinen errichtet worden, aber sein Triforium zwischen Arkaden und Obergaden unterschied sich durch seine herausgearbeiteten steinernen Säulen. In anderen Gotteshäusern waren solche Ausschmückungen in Form von gemalten Motiven üblich.
Noch fiel Sonnenlicht von Osten durch drei hoch aufragende Buntglasfenster des rechteckigen Chores, den Franz von äußeren massiven Strebpfeilern gestützt als ziemlich wuchtig und kantig empfunden hatte. Innen dagegen erschien der Chor luftig und elegant. Das von herrlichen Glasmalereien vielfach bunt gefärbte Licht umspielte den Altar, der mit barockem Schnitzwerk verziert war. Er verdeckte das mittlere Chorfenster der Ostwand fast vollständig. Es dauerte jedoch nicht mehr lange, und es ergossen sich Sonnenstrahlen auch durch die Fenster des südlichen Lichtgadens in das Kirchenschiff.
Franz faszinierten einige Schiffsmodelle, die wie in der Sage des fliegenden Holländers durch die Lüfte zu schweben schienen. Doch dann entdeckte er die Ketten, an denen die kunstvollen Nachbildungen hingen. Sie senkten sich von mehreren Schlusssteinen der gotischen Kreuzgewölbedecke herab und bereiteten der Illusion des freien Schwebens der Schiffchen ein Ende.
Aber der Gestank war keine Illusion. Er beneidete einige Damen um ihre Fächer, mit denen sie sich Luft zuwedelten. Als er die Nase angewidert kraus zog und fragend zu seiner Wirtin hinübersah, zog sie die Schultern hoch und nickte.
„Im Sommer sind Bestattungen immer eine Zumutung. Diese Woche müssen wohl ein, zwei Leichen hinter die Grabplatten gekommen sein“, vermutete sie und flüsterte ihm noch etwas zu, von dem er jedoch nur die Hälfte verstanden hatte. Es dürfte mit Jakobus dem Älteren zu tun gehabt haben, der in der vergangenen Woche seinen Namenstag gefeiert hatte.
Die Gespräche verstummten. Das Eingangslied wurde angestimmt und der Gottesdienst begann. Franz musste achtgeben, nicht ständig den Einsatz zu verpassen, wenn die Gemeinde zu Gesang oder Gebeten aufgefordert wurde. Aus den Augenwinkeln bemerkte er Mudder Schultzens missbilligende Blicke, wenn er wieder einmal gepatzt hatte und die letzte Silbe seines „Amen“ oder „Halleluja“ allein durch das Kirchenschiff gehallt war.
Die Predigt sollte beginnen. Schon als der Pastor schweren Schrittes seine Kanzel erklomm, breitete sich im Gestühl ehrfürchtige Stille aus. Franz beobachtete mitfühlend die Schwerfälligkeit des Kirchenmannes, der sich mühsam die Treppe hinaufkämpfte. Allerdings wurde er von Berufskollegen gewiss um die Verzierung seiner Kanzel beneidet. Eine hölzerne Brüstung fasste steinerne Reliefs ein, die nach Franz’ Vermutung die zwölf Apostel darstellten.
Schon in den ersten Sekunden der kraftvoll gesprochenen Predigt begriff Franz, warum Mudder Schultzen und andere wissende Kirchgänger sich in Sicherheit gebracht hatten. Der Pastor – oder vielmehr die Gemeinde – litt an seiner übermäßig feuchten Aussprache. Der wackere Mann störte sich nicht weiter daran, sondern erinnerte in sehr ausschmückender Art und Weise an das ereignisreiche Leben des Apostels Jakobus, das mit einem jähen Märtyrertod, übrigens dem ersten in der christlichen Geschichte, enden sollte. Dem Namenspatron des Gotteshauses wurde überreichlich gehuldigt, so dass das Interesse der Zuhörerschaft bald erlahmte. Franz hörte hinter sich leises Schnarchen und lächelte über so viel Dickfelligkeit. Doch der Tenor der Predigt sollte sich bald ändern. Als der Pastor aus dem 4. Kapitel des Briefes Jakobus zitierte, hatte Franz nicht
Weitere Kostenlose Bücher