Weiße Geheimnisse: Historischer Roman (Hohen-Lützow-Saga) (German Edition)
einigen hundert Jahren wurde St. Jakobi zum Domstift erhoben. Das ist übrigens auch eine der berühmten Geschichten, die man sich noch in zweihundert Jahren hier in der Stadt erzählen wird. Die aufgebrachten Rostocker hatten etwas dagegen, dass ihre Pfarrkirche ein Domstift werden sollte und schlugen am selben Tag den neu ernannten Dompropst tot. Der Weg ins Gefängnis wurde ihm zum Verhängnis.“ Mudder Schultzen stutzte. „Donnerwetter! Noch so ein Reim. Werd ich auf meine alten Tage gar ein Dichter?“, witzelte sie gut gelaunt. „Ach nein“, bemerkte sie und schüttelte ihren haubenverzierten Kopf, „das liegt nur daran, weil ich heute so viel rede wie sonst im ganzen Jahr! Übrigens, man hat ihm, dem Probst, einen Gedenkstein gesetzt. Der steht in der Langen-Straße, eingelassen in einer Hausnische.“
„Rostock hat wohl eine sehr bewegte Vergangenheit“, erkundigte sich Franz. „Da fällt mir die Blut-Straße ein. Sehr schauerlich für eine erste Adresse.“
Die Wirtin lachte verschmitzt, während sie ihr gutes Porzellan abwusch und vorsichtig abtrocknete. „Ja, das glauben viele Auswärtige, der Namensgebung habe irgendeine blutrünstige Vergangenheit Pate gestanden“, bestätigte sie zunächst Franz’ Mutmaßungen. „Dabei handelt es sich nur um einen peinlichen Fehler“, fügte sie hinzu.
„Sie wollen mich doch nicht etwa veralbern“, fragte Franz misstrauisch. Die gute Laune der Wirtin kam ihm verdächtig vor.
„Aber nicht doch“, beschwichtigte sie, sie wirkte auch nicht verärgert wegen seiner Zweifel, sondern fuhr unbeirrt fort: „Ihnen ist bestimmt aufgefallen, dass es in der Stadt eine Stein-Straße gibt.“
„Ja, bin gerade gestern daran erinnert worden, als mich das Pflaster der Straße in der Droschke durchgeschüttelt hat, während ich zu der Abendeinladung unterwegs gewesen bin.“
„Ach, diese Schufte! Können es einfach nicht lassen!“ Mudder Schultzen war nun doch verärgert, sie stemmte ihre Fäuste in die Taille oder zumindest in die Körpergegend, wo sie sich einmal befunden haben mochte.
„Sie meinen, er hätte nicht ...“
„Nein!“, unterbrach sie resolut seine Nachfrage, „aber egal, jetzt wissen Sie hoffentlich Bescheid und gehen in Zukunft anders mit den Brüdern um.“
„Ich werde es mir merken! Was war nun mit der Stein-Straße?“
„Stein-Straße? Ach so, ja, die Blut-Straße ist halt nur das Gegenteil von der Stein-Straße!“
„Ein bisschen einfacher geht es nicht? Ich frage nur so rein zufällig.“
Mudder Schultzen war immer noch mit ihrem Porzellan beschäftigt und Franz hatte den Eindruck, sie wage erst wieder zu atmen, wenn auch das letzte Stück sich wohlbehalten im Schrank befände. Und wirklich, als die letzte Tasse hinter der Tür verschwunden war, wirbelte sie erleichtert herum und ließ sich zu weiteren Erklärungen herab: „Tja, welcher Dœsbaddel Blotstrat mit Blut-Straße gleichgesetzt hat, weiß ich natürlich nicht, jedenfalls soll es in seiner eigentlichen Bedeutung – Bloße-Straße – heißen, also das Gegenteil von Stein-Straße. Oder sind Sie in der Blut-Straße über Steine gelaufen?“
„Nein“, Franz schüttelte lächelnd den Kopf.
„Na also, so einfach ist das manchmal und jetzt müssen wir uns sputen, wenn wir nicht unter der Kanzel sitzen wollen.“
Sie band sich demonstrativ die Schürze ab. Ein rasch übergeworfenes Schultertuch komplettierte ihren Sonntagsstaat und eiligst schob sie Franz zur Küchentür hinaus.
Die Luft war erfüllt vom Klang der Glocken, die vielstimmig daran erinnerten, dass der Herr den siebten Tag heiligte; die Straßen waren gefüllt mit Menschen, die dem durchdringenden Ruf Folge leisteten. Ob es nun sieben Glocken waren, die da gleichzeitig schlugen, wie Mudder Schultzen es ihm erklärt hatte, war nicht eindeutig herauszuhören. Es hätte Franz jedoch nicht weniger beeindruckt, wenn es nur sechs gewesen wären.
Franz hätte seinen Tschako besser zu Hause gelassen, er lüftete ihn zum Gruß gewiss ein dutzend Mal. Schließlich begnügte er sich damit, die Hand an den Tschakoschirm zu heben, sobald seine Wirtin von Passanten begrüßt wurde. Bei einigen kurzen Schwätzchen stellte sie Franz nicht als Untermieter, sondern als besonders guten Bekannten vor. Sie freute sich über die wohlwollende Begutachtung ihres Schützlings. Und Franz fragte sich, ob Johann oder auch andere Studiosi, die sie beherbergte, ebenfalls solche Gunstbezeugungen über sich ergehen lassen
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