Weiße Geheimnisse: Historischer Roman (Hohen-Lützow-Saga) (German Edition)
Rostocks Kriminalfälle drängelten sich geradezu nach seiner Beteiligung.
„Keinen Ton“, flüsterte er dem stocksteifen Jungen ins Ohr.
Franz grüßte höflich und kam gleich zur Sache: „Heute ist der Junge meiner Wirtin zur Hand gegangen. Als er einen Ast abgesägt hat, ist er vom Baum gefallen. Ein Arzt hat ihn bereits untersucht und eine leichte Gehirnerschütterung festgestellt. Er leidet wohl unter Amnesie. Der Junge erinnert sich an nichts und kann uns partout nicht sagen, wo er wohnt. Könnten Sie das bitte feststellen lassen und ihn an seine Eltern überstellen?“
Jochen blieb vor Überraschung der Mund offen stehen. Er versuchte seinen Atem unter Kontrolle zu bringen und ein passend blödes Gesicht zu der Geschichte zu machen, die dem Mann am Pult aufgetischt worden war.
Der Beamte musterte den Jungen geringschätzig. Sein Blick glitt über Jochens ungekämmtes Haar bis hinunter zu den aufgeplatzten Schuhen. „Das ist bestimmt einer vom Stift“, meinte er. „Hast wohl das gemacht, was ihr Burschen den Tag über treibt, den Ast abgesägt, auf dem du gehockt hast.“ Der Mann lachte gehässig, verstummte aber, als er Franz’ undurchdringliche Miene sah.
„Ich kümmere mich um den Jungen, Herr Leutnant“, beeilte er sich zu sagen. Er nahm Jochen bei der Schulter, führte den blicklos vor sich hin starrenden Jungen an eine robuste Tür und entriegelte sie umständlich.
Franz nickte Jochen kurz zu, hob – jedoch nur für den Jungen sichtbar – warnend den Zeigefinger, sich ja keine Dummheiten zu erlauben.
Über das Gesicht des Jungen huschte ein Lächeln. Er senkte kurz die Lider, dann sah er Franz offen an. Dankbarkeit leuchtete aus den braunen Augen seines Kindergesichtes. Jochens kaum wahrnehmbares Nicken war ein stummes Versprechen.
Die Tür fiel hinter ihm krachend ins Schloss und wurde vorschriftsmäßig verriegelt.
„Ich werde einen Aufseher vom Waisenhaus kommen lassen, ob die Leute den Jungen kennen“, verkündete der Diensthabende mit einem missbilligenden Kopfnicken in Richtung Zelle. „Wenn nicht, muss er so lange hierbleiben, bis ihn jemand vermisst. Die Angehörigen beginnen ihre Suche in der Regel hier, aber damit kennen Sie sich ja aus.“ Unverhohlene Neugier machte sich auf dem Gesicht des Diensthabenden breit.
Plumpe Vertraulichkeiten waren Franz zuwider, deshalb entgegnete er schroff: „Können Sie mir eine kurzfristig abgehende Fahrgelegenheit nach Doberan beschaffen.“
Die Zurückweisung verwandelte den Diensthabenden in eine uniformierte Amtsperson. Er straffte sich unwillkürlich und sah auf ein Uhrwerk, das in der geladenen Stille umso lauter tickte.
„Ähm ja, wenn Sie sich freundlicherweise einen Moment gedulden wollen?“, erwiderte er höflich.
Franz machte nur eine zustimmende Geste. Der Diensthabende stürzte davon. Er wählte den Weg in Richtung Kommissär Goltzows Dienstzimmer, was Franz dann doch erstaunte. Er hatte nur mit einer Auskunft gerechnet und vermutet, Pferd und Wagen gäbe es auf der Straße zu akquirieren. Kurze Zeit später sah er, wie der backenbärtige Kommissär freundlich lächelnd auf ihn zukam.
„Leutnant von Klotz, ich höre, Sie suchen eine Fahrgelegenheit. Kann ich Ihnen meine Gesellschaft anbieten?“, fragte der Beamte zuvorkommend.
„Ich hoffe, ich muss nicht mit einem Platz in einem Gefangenentransport vorlieb nehmen“, scherzte Franz, so über seine Unsicherheit hinwegtäuschend. Ihm war nicht geheuer, was Goltzow in Doberan zu tun habe.
„Nicht doch!“, wehrte der lachend ab. „Ich will nach Kröpelin, meine Gattin abholen. Die Fahrt ist rein privater Natur.“
Während sich die Männer höflich darüber austauschten, wann die Reise losgehen könnte und Franz seine finanzielle Beteiligung anbot, die aber strikt abgelehnt wurde, fuhr draußen auf der Straße ein Zweispänner vor. Der Diensthabende flitzte mit dem schmalen Reisegepäck seines Vorgesetzten vorbei. Also konnte man unverzüglich aufbrechen.
Franz war die unverhoffte Mitfahrgelegenheit alles andere als lieb. Er befürchtete, Lapérouse ließe sich von dem äußerst respektablen Reisebegleiter, der Goltzow ohne Frage war, abschrecken, und gäbe die Verfolgung auf.
Der Kommissär entschuldigte sich und zog sich zu einer Unterredung mit dem Diensthabenden zurück. Franz benutzte die Gelegenheit, um den inzwischen lädierten Aktendeckel unter seinem Rock hervorzuziehen. Die farbenfrohe Pappe unterm Arm marschierte er auf die Straße und verwickelte
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