Weiße Geheimnisse: Historischer Roman (Hohen-Lützow-Saga) (German Edition)
unter sich, klärte Ernst den Kommissär über die Herkunft des Fläschchens mit der Aufschrift „Strychnos Nux vomica“ auf und setzte Goltzow auseinander, Kägler das Strychnin nur in einer therapeutischen Dosis zur Stimulans der Atemtätigkeit verabreicht zu haben.
„Bei Herrn Witte in der Löwenapotheke können Sie prüfen, dass ich niemals über eine tödliche Dosis des Giftes verfügt habe“, sagte er, um unliebsamen Schlussfolgerungen vorzubeugen, zu denen der Kommissär erfahrungsgemäß neigte.
„Was hat Ihrer Meinung nach den Atemstillstand verursacht?“, fragte Goltzow unumwunden, ohne auf Ernsts Rechtfertigung einzugehen.
„Ich habe nur eine Vermutung“, erwiderte Ernst vorsichtig.
Goltzow lächelte aufmunternd. „Bitte, Doktor Ahrens, klären Sie mich auf. Sie wissen doch, dass Sie zur Unterstützung polizeilicher Ermittlungen von der Schweigepflicht entbunden sind.“
„Ja, das weiß ich.“ Ernst leckte sich die Lippen, bevor er zu einem Erklärungsversuch ansetzte. „Herr Kägler ist ..., war“, verbesserte er sich, „sehr fettleibig, wie Sie sich selbst überzeugen können.“ Ernst wies auf die massige Gestalt des Toten. „Aufgrund ungezügelten Essverhaltens litt er unter Gicht. Aber er war erst seit einem Jahr mein Patient.“
„Verstehe, wie alle Ihre Patienten“, schob Goltzow etwas ungeduldig ein.
Ernst nickte und zupfte nervös an seiner Weste.
„Ja, Sie wissen gut Bescheid. Also, ich verordnete Kolchizin zur Behandlung der Gichtanfälle, die immer häufiger auftraten. Als man nach meiner Hilfe verlangte, machte ich mich sofort auf den Weg, traf jedoch erst wenige Minuten vor dem Ableben des Hausherrn ein.“ Ernst schluckte. Das dumpfe Gefühl, das ihn mit Käglers Tod beschlichen hatte, wollte einfach nicht weichen. Er fühlte sich auf eine unbestimmte Weise schuldig, obwohl er sich mit größter Eile hierher begeben hatte.
„Hätten Sie den Mann retten können, wenn Sie früher gerufen worden wären?“
Ernst zog die Schultern hoch. „Ich weiß es nicht“, entgegnete er unsicher. „Ich habe noch gar keine Zeit gehabt, zu fragen, seit wann es auch für einen Laien ersichtlich war, dass Professor Käglers Zustand lebensbedrohlich sein könnte.“
„Verstehe“, murmelte Goltzow nachdenklich. „Sie behandelten also mit Kol ..., verflucht, wie heißt das Zeug?“
„Kolchizin, das ist eine Tinktur, die aus den braunen Samen der Herbstzeitlosen gewonnen wird. Eine Überdosis führt zu Atemlähmung.“ Ernst verstummte und wartete. Er vermied es, Goltzow anzusehen, stattdessen starrte er auf das geometrische Muster des orientalischen Teppichs, mit dem das Schlafzimmer ausgelegt worden war.
Goltzow holte scharf Atem.
„Selbstredend haben Sie Ihren Patienten darüber aufgeklärt, welche fatalen Folgen eine Überdosis hätte“, unterstellte er.
Ernst blickte auf. „Selbstverständlich! Ich habe auch Frau Professor ...“ Er brach ab, als er das Flackern in den Augen des Kommissärs sah. Bereits bei der letzten Begegnung war es ihm unheimlich gewesen.
„Soso, interessant“, stellte Goltzow fest. Er wandte sich von Ernst ab und betrachtete den Leichnam.
Aus Käglers Zügen waren bereits die Spuren des Todeskampfes gewichen. Aus dem aufgedunsenen Gesicht ragte die scharf profilierte Nase hervor, herabgesunkene Lider machten es ausdruckslos. Dem Toten stand der Mund offen, woraus ein dünnes Rinnsal einer dunklen Flüssigkeit auf das makellos weiße Betttuch tropfte.
„Was ist das?“, fragte Goltzow in einem Ton, der Ernst kalte Schauer über den Rücken trieb.
„Schwarzer Bohnenkaffee“, antwortete er. Als Goltzow ihn erstaunt ansah, erklärte er, wie Kaffee wirke und wie er das anregende Getränk verabreicht habe.
„Ah, Kaffee als Lebensretter!“ Goltzow sah Ernst an. In seiner Miene spiegelte sich eine Mischung aus Anerkennung und Belustigung. Plötzlich beugte er sich zum Laken hinunter und schnupperte vorsichtig an der Lache, die vom Leinen aufgesaugt worden war. Angewidert zog er die Nase kraus und richtete sich hastig auf.
„Scheußliches Zeug, diese Magensäure“, stellte er fest, um sein Benehmen zu entschuldigen. Ernst lächelte nachsichtig, denn ihm waren menschliche Ausscheidungen in jedweder Form vertraut.
Goltzow begann die Kleidung des Toten zu untersuchen und zog aus der Brusttasche des Hausmantels einen Brief hervor. Sofort faltete er ihn auseinander.
Ernst beobachtete, wie Goltzow die Augen aufriss, kaum dass er ein paar Zeilen
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