Weiße Geheimnisse: Historischer Roman (Hohen-Lützow-Saga) (German Edition)
Ernst zog eilig den Kopf ein. Mit dem Schlüssel in der Hand hastete er die Treppe hinunter. Er brauchte keine Rücksicht auf andere Bewohner zu nehmen, weil das Haus ausschließlich für Erwerbszwecke genutzt wurde. In der Nacht war niemand da, den man mit polternden Schritten hätte stören können.
Als er die Tür zur Straße öffnete, wankte ihm ein großer Mann entgegen.
„Christian, fass zu, sonst fällt er mir um!“
Das war eindeutig Franz’ Stimme. Ernst griff dem Taumelnden instinktiv unter die Arme. Für seine Überraschung blieb keine Zeit, hier war sofort seine Kompetenz als Arzt gefragt. Seine Verwandlung vom Grübler zum rational handelnden Mediziner vollzog sich augenblicklich.
„Wo ist die Verletzung“, fragte er knapp.
„Wange und Zunge“, gab Franz ebenso knapp zurück.
„Gut, also nichts Lebensbedrohliches“, sagte Ernst mehr zu sich selbst. Er hörte den Mann in seinen Armen Luft holen, demnach war die Zunge der Atemluft nicht im Weg.
„Schaffen wir ihn hinauf ins Licht“, schlug er vor. Zu dritt, mit sporadisch einsetzender Unterstützung des Verletzten, hievten die Männer ihre bestimmt an die zwei Zentner wiegende Last die Treppe hinauf.
„Hier, setzen Sie sich hin“, forderte Ernst seinen neuen Patienten auf, als sie ihn endlich auf einer Pritsche abladen konnten. „Franz, schaff mir Licht herbei. Kerzen sind in der mittleren Schublade der Anrichte.“
Franz kramte sofort in der beschriebenen Schublade. Er bestückte alle Kerzenhalter, derer er habhaft werden konnte, mit neuen Wachslichten und stellte sie möglichst nahe der Pritsche auf.
Ernst griff nach einem besonderen Leuchter, an dem ein Hohlspiegel befestigt war, so dass das blankpolierte konkave Metallplättchen das Kerzelicht bündelte und in die gewünschte Richtung warf.
„Machen Sie den Mund auf“, forderte er.
Sein Patient gehorchte nicht.
Der Verletzte litt fraglos unter großen Schmerzen, es war jedoch unumgänglich, ihm bei Untersuchung und Behandlung weitere Schmerzen zuzufügen.
„Wenn ich Ihnen helfen soll, müssen Sie sich untersuchen lassen“, sagte Ernst ruhig, aber bestimmt. Der große Mann schaute von der Pritsche auf ihn herunter und Ernst entdeckte in dem blutüberströmten Gesicht eine Mischung aus Angst und Vertrauen, einen Ausdruck, den er vom größten Teil seiner Patienten kannte, wenn es darum ging, mit Schmerzen von Schmerzen erlöst zu werden.
„Stell dich nicht so an, Lapérouse. Die Wunden müssen gereinigt werden. Wer weiß, worin das Bajonett noch gesteckt hat.“
Franz’ Einwurf zeigte Wirkung. Der Patient, von dem Ernst nun wenigstens wusste, er heiße Lapérouse, machte den Mund auf und Ernst verlor keine Zeit, hineinzuleuchten. Nachdem er mitbekommen hatte, welche Waffe benutzt worden war, konnte er sich auch erklären, wie es zu den massiven Verletzungen gekommen war: Die Zunge war seitlich glatt durchstoßen worden, blutete aber nicht mehr. In der Mundhöhle schwamm noch jede Menge geronnenes Blut, das von den beiden Stichwunden in der rechten sowie der linken Wange herrühren mochte. Ernst klopfte sanft die Zähne mit einem winzigen Hämmerchen ab. Keiner wackelte. Während der Bestandsaufnahme gab sein Patient nur hin und wieder einen kehligen Laut von sich.
„Mit dem Gebiss ist alles in Ordnung“, stellte Ernst erleichtert fest. „Franz, du müsstest mir mal assistieren.“ Bevor er weitere Anweisungen geben konnte, nahm ein junger Offizier ihm den Leuchter aus der Hand.
„Darf ich die Herren miteinander bekannt machen. Ernst, Leutnant Christian von Stetten, mein ältester Freund; und Christian, Doktor Ernst Ahrens, mein jüngster Freund“, stellte Franz freudestrahlend vor.
Franz sieht irgendwie verändert aus, dachte Ernst, bevor er seinen neuen Assistenten anlächelte. „Sehr angenehm, Leutnant von Stetten“, sagte er förmlich.
„Ganz meinerseits“, gab Stetten mit einer leichten Verbeugung zurück.
„Es tut mir leid, Ihnen im Moment ein miserabler Gastgeber zu sein. Aber Sie haben gewiss Verständnis für meine Prioritäten.“ Ernst wies achselzuckend auf Lapérouse und funkelte Franz an.
„Leuchten Sie bitte auf die Zunge“, bat er ohne Umschweife. „Und du hältst diese Schale unters Kinn des Verletzten“, wies er Franz an. „Was ist eigentlich mit deiner Nase passiert?“, fragte er mit einem kurzen Seitenblick, während er seinen Patienten mit einem Spatel und Mull von allem befreite, was der in seiner Mundhöhle entbehren konnte.
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