Weiße Geheimnisse: Historischer Roman (Hohen-Lützow-Saga) (German Edition)
Freitag zuvor. Er war von gepflegtem Äußeren, aber mir fiel eine Unruhe auf, die nicht zu ihm passte.“
„Wie äußerte sich die?“
„Nun ja, er wischte sich dauernd mit einem Taschentuch übers Gesicht, als ob ihm heiß sei, aber an jenem Tag war es nachgerade kalt. Ich entsinne mich so gut, weil meine Tochter den Ofen angeheizt hat. Sie müssen bedenken, es ist mitten im Sommer gewesen. Ich schalt sie, teures Brennholz zu vergeuden. Die Ärmste friert immer so schnell, wissen Sie, bei ihrer zarten Konstitution ist das ja auch kein Wunder.“ Borgwart streichelte seine Nase und bei der Gelegenheit erinnerte er sich an die Schnupftabakdose. Er zog sie hervor und bot zuerst seinem Gast von dem fein geriebenen Tabak an. Franz wollte nicht unhöflich sein. Obwohl Schnupfen nicht zu seinen Gewohnheiten zählte, entnahm er eine kleine Menge des dunklen Pulvers. Er sog die Prise von seinem linken Handrücken ein. Das anschließende Kribbeln war ihm unangenehm, aber er sah im Hinblick auf den Genuss, den es Borgwart zu bereiten schien, darüber hinweg. Sie wünschten sich gegenseitig ein „Prosit“, nachdem der Tabak seinen Tribut verlangt hatte.
Sichtlich zufrieden, seinem Gast und sich eine Wohltat bereitet zu haben, machte sich Borgwart anheischig, seine Schilderung fortzusetzen, doch Franz dämmte den befürchteten Redeschwall ein. „Ist Johann jemals in Begleitung zu Ihnen gekommen?“, fragte er.
„Im Kontor oder hier in meiner Wohnung erschien er stets allein, das gehört zu meinem Geschäftsprinzip, verstehen Sie, junger Mann! Ob jemand vor meinem Haus oder an der nächsten Ecke auf ihn gewartet hat, kann ich natürlich nicht ausschließen.“
„Könnte das nicht der junge Bursche wissen, der mich auf der Straße vor Ihrem Tor so freundlich in Empfang genommen hat?“
Der Prinzipal machte ein gequältes Gesicht. „Der junge Pries ist erst seit heute Morgen in meinen Diensten. Also kann er unmöglich irgendetwas beobachtet haben, das Ihnen dienlich wäre.“
Franz bemerkte die Abneigung des Prinzipals, seine Angestellten in die Sache einzubeziehen. Da er sein Ehrenwort gegeben hatte, verbot sich jede Ermittlung auf eigene Faust, etwa die Angestellten auszuhorchen. Dennoch wagte er einen weiteren Vorstoß: „Und den Vorgänger des jungen Pries’? Könnten Sie den befragen? Vielleicht ist ihm ja irgendwelches zwielichtige Volk aufgefallen, das den hiesigen Behörden schon lange ein Dorn im Auge ist?“
Der Vorschlag schien zu gefallen, Borgwarts Miene wurde freundlicher. „Ja, das könnte ich, junger Mann!“, meinte er zuvorkommend. „Sie haben recht. Den Kampf des Magistrats gegen Hausiererei und ungenehmigtes Betteln will ich gern unterstützen und meine Erkundigungen einholen. Kommen Sie am besten morgen am Nachmittag hier vorbei. Sie treffen mich dann besser informiert an.“
„Ich danke Ihnen, Herr Borgwart! Ich wünsche Ihnen noch einen guten Tag.“
„Guten Tag, Herr von Klotz.“
Die Männer verbeugten sich und der Kaufmann, äußerst zufrieden darüber, das Depot noch nicht auflösen zu müssen, begleitete Franz noch bis an das Tor zur Straße.
Anatomie
Viel zu spät dachte Franz an die Auszahlung eines Betrages. Aber da er ohnehin für den nächsten Tag mit dem Kaufmann verabredet war, wollte er den Mann nicht länger von seinen Geschäften abhalten. Außerdem, so stellte er mit einem Blick über die Schulter fest, hätte Borgwart sowieso keine Zeit mehr für ihn gehabt: Ein Gespann mit starken Kaltblutpferden hielt vor dem eben verlassenen Kontorhaus. Das schwere Tor zum Borgwart’schen Heiligtum öffnete sich wie von Zauberhand und der Torweg verschluckte das Gefährt unter dem Rumpeln der Wagenräder.
Franz erinnerte sich, die Kaminuhr im Wohnzimmer des Prinzipals habe erst 10.00 Uhr und eine halbe Stunde geschlagen. Demzufolge blieb noch genügend Zeit, sich anderweitig in der Stadt umzusehen.
Hier draußen auf der abschüssigen Straße umfing ihn ein frischer Wind – kein Vergleich zur Schwüle des Vortages. Die Straße belebte allerhand Volk, Alt und Jung trug zweckmäßige, mehr oder weniger saubere Arbeitsmonturen.
Vor links und rechts aufgereihten Speicherhäusern standen mit vielerlei Fracht beladene Handkarren und Pferdefuhrwerke. Fasziniert beobachtete Franz die halsbrecherische Gewandtheit der Arbeitsmänner. Sie nahmen die Kostbarkeiten aus aller Herren Ländern, die in Lastenaufzügen aufwärts gehievt wurden, im dritten, vierten oder sogar fünften
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