Weißer Mond von Barbados
breitem Grinsen zu, wie Sverdlov die Kerzen entzündete, und bedankte sich dann überschwänglich.
»Fabelhaft!« meinte Judith. »Der Junge ist ganz hingerissen von dir.«
»Genau.« Sverdlov setzte sich wieder. »Er hält mich für ein Genie. Selber wäre er nie auf die Idee gekommen, daß man statt eines Streichholzes, das der Wind sofort ausbläst, einfach eine brennende Kerze nehmen kann. Wie George Orwell schon ganz richtig sagte: Alle Menschen sind gleich, aber manche sind gleicher als die anderen.«
»Dem Jungen da macht es nichts aus«, sagte Judith. »Darum sind sie wohl auch so glücklich hier auf dieser Insel. Sie haben eine glückliche Philosophie, die wir ganz vergessen haben. Man muß das beste machen aus dem, was man ist und kann, und sich nicht darum kümmern, ob ein andrer mehr ist oder etwas besser kann. Alle Menschen sind wirklich gleich viel wert, wenn jeder wirklich er selbst ist. Aber wir kennen nur noch ein Ideal – immer mehr leisten, immer mehr Geld verdienen, immer höher steigen. Es ist eine schreckliche Welt geworden. Sie macht die Menschen nicht zu Freunden, sondern zu Feinden. Immerhin kommt es mir schon sehr drollig vor, daß ausgerechnet du Orwell zitierst.«
»Und mir kommt deine Art Philosophie drollig vor. Redest du in dieser Art auch in New York?«
»Ich sage immer, was ich denke, ganz egal, wo ich bin. Warum sollte ich nicht?«
»Man wird denken, du seist Kommunist. Nachdem man dich jetzt mit mir gesehen hat, bist du sowieso eine verdächtige Person. Du solltest vorsichtig sein, sonst wirst du Schwierigkeiten haben.«
»Was für ein Unsinn. Außerdem hat das, was ich eben sagte, nichts mit Kommunismus zu tun. Man könnte eher sagen, es sei eine christliche Philosophie.«
»Die gibt es nicht. Eine Philosophie, die sich auf einen Aberglauben gründet, ist keine Philosophie. Das ist so etwas Ähnliches wie dein Tamarindenbaum.«
»Das wirst du nie vergessen, wie? Und ich glaube trotzdem daran, daß es ihn gegeben hat. Sicher hat man ihn gefällt.«
Er lächelte. Natürlich war es ein Triumph für ihn gewesen, daß es den legendären Tamarindenbaum nicht gab, und er versäumte keine Gelegenheit, sie damit aufzuziehen. Eines Tages waren sie nämlich wirklich zu Haywards Pflanzung gefahren, wo der Besitzer zwar höflich, aber mit ungläubigem Staunen der Geschichte vom armen gehängten Sklaven und dem wundersamen Baum lauschte und dann sogar die Runde durch seine Plantage mit ihnen machte, auf der Suche nach dem besonderen Baum.
Es gab ihn nicht. Sverdlov kniff Judith ab und zu in den Arm und grinste jedesmal, wenn sie eine der herumliegenden Samenfrüchte aufhob und genau prüfte, ob sie nicht doch einem Negerkopf ähnelte.
»Es ist nichts als eine Legende«, wiederholte er auch heute wieder, »genau wie die von jenem politischen Agitator, der von den Toten auferstand.« Er lachte laut. »Wie kann nur eine intelligente Frau wie du solch einen Unsinn glauben! Die Wahrheit ist ganz einfach die: Es gibt weder deinen unschuldigen Sklaven noch einen Tamarindenbaum mit speziellen Anhängern, so wenig wie es eine Kraft außerhalb unsrer Welt gibt, die den Armen und Geschlagenen irgendwann und irgendwo Gerechtigkeit widerfahren läßt. Diese Erde ist unsere Welt, und da ist nichts als der Mensch. Und das, was er Gerechtigkeit nennt, ist eine relative Sache, keine absolute. Etwas, was in diesem Jahr Recht und gerecht ist, kann im nächsten Jahr Unrecht sein. Etwas, was heute gut ist, kann morgen ein Verbrechen sein. Es gibt keine absoluten Gesetze, glaube mir. Es gibt nur das Gesetz der Zweckmäßigkeit.«
»Das ist der größte Zynismus, der mir je begegnet ist«, sagte Judith und blickte ihn böse an. Sie hasste seine Attacken gegen religiöse Dinge, über dieses Thema hatten sie sich am meisten gestritten. Aber sie erkannte in diesem Moment, daß er im Grunde gar nicht von Religion sprach. Was er in Wirklichkeit attackierte, war die Ideologie seines eigenen Landes.
»Du warnst mich vor Schwierigkeiten, die ich in Amerika haben werde«, sagte sie. »Und was ist mit dir? Wenn du so redest wie eben jetzt.«
»Das kommt ganz darauf an«, meinte er. »Vor zwei Jahren noch hätte es keinen gestört. Heute dagegen – ja, heute würde man es als Verbrechen ansehen. Und das ist es ja, was ich meine. Der Wind wechselt, die Wetterfahne dreht sich. Damit müssen wir leben. Und das ist es, was man unter Politik und erst recht unter Ideologie verstehen muß. Heute dies und morgen das,
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