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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
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sie. Sie rollte sich auf den Bauch. »Er war vierzig, malte biomorphe Abstraktionen. Das war um die Zeit eigentlich längst passé.« Sie teilte das Gras wie kurzes Haar. »Er war in allem passé. Seine Ideen, seine Schwärmereien. Pures Mittelmaß. Ich weiß nicht, was ich damals in ihm gesehen habe.«
    »Erzähl mir nicht, dass du es nicht weißt, das ist Quatsch«, sagte ich.
    Sie seufzte. Ich machte sie müde. Und wenn schon? »Es ist ewig her, Astrid. Mindestens ein paar Lebensalter. Ich bin nicht mehr derselbe Mensch.«
    »Lügnerin«, sagte ich. »Du bist noch genau derselbe Mensch.«
    Sie schwieg. Ich hatte sie noch nie beschimpft.
    »Du bist immer noch ein richtiges Kind, nicht wahr«, sagte sie. Ich merkte, dass sie um Haltung rang. Ein Fremder hätte es nicht sehen können, doch ich erkannte es an der Art und Weise, wie die Haut um ihre Augen dünner zu werden schien, ihre Nase einen Millimeter schärfer. »Du hast meine Propaganda für die Wahrheit gehalten.«
    »Dann klär mich auf«, sagte ich. »Was hast du in ihm gesehen?«
    »Trost wahrscheinlich. Er war unkompliziert. Sehr sinnlich. Er schloss leicht Freundschaften. Er nannte alle Leute ›Kumpel‹.« Sie lächelte leicht, während sie immer noch ins Gras starrte und es zerteilte, als ob sie einen Aktenordner durchging. »Groß und unkompliziert. Er hat keine Forderungen gestellt.«
    Ja, das glaubte ich gern. Ein Mann, der etwas von ihr wollte, wäre nie reizvoll für sie gewesen. Es musste ihr Verlangen sein, ihr Feuer. »Und dann?«
    Sie rupfte eine Hand voll Gras aus, warf es weg. »Müssen wir die ganze Geschichte durchkauen? Das ist ja wie eine uralte Wochenschau!«
    »Ich möchte es aber gern vor mir sehen«, sagte ich.
    »Er malte, kiffte allerdings mehr, als er malte. Er ging an den Strand. Er war zweitklassig. Es gibt einfach nicht viel zu sagen. Es war gar nicht mal so, dass er nirgendwo hinging; er war vielmehr schon angekommen.«
    »Und dann bist du schwanger geworden.«
    Sie warf mir einen wütenden Blick zu. »Ich bin nicht schwanger geworden , das überlasse ich deinen ungebildeten Freundinnen. Ich habe beschlossen , dich zu bekommen. Die Betonung liegt auf beschlossen. « Sie löste ihr Haar und schüttelte das Gras heraus. Es glänzte im gebrochenen Licht wie Wildseide. »Welche Vorstellung du dir auch immer ersponnen hast – ein Unfall bist du nicht gewesen. Ein Fehler vielleicht, aber kein Unfall.«
    Die Fehler einer Frau … »Warum er? Warum zu diesem Zeitpunkt?«
    »Irgendjemanden brauchte ich doch, oder? Er sah gut aus, war gutmütig. Er war der Idee nicht abgeneigt. Voilà.«
    »Hast du ihn geliebt?«
    »Über Liebe will ich gar nicht sprechen, dieses semantische Rattennest.« Sie löste die übereinander geschlagenen Beine wieder, stand auf und bürstete sich den Rock ab. Sie lehnte sich an den Baumstamm, einen Fuß gegen das weiße Fleisch gestützt, und kreuzte die Arme, um stabil zu stehen. »Wir hatten eine recht hitzige sexuelle Beziehung. Da übersieht man manches.« Über ihrem Kopf hatte eine Frau »Mona ’76« in das weiße Holz geritzt.
    Ich sah sie an, meine Mutter; diese Frau, die ich kannte, aber nie wirklich gekannt hatte; diese Frau, die immer kurz davor gewesen war zu verschwinden. Diesmal würde ich sie nicht davonkommen lassen. »Du hast ihn angebetet. Ich habe es in deinem Tagebuch gelesen.«
    » Anbetung ist nicht ganz das Wort, das wir hier suchen«, sagte sie, während sie die Straße hinunterblickte. »Anbetung setzt eine spirituelle Dimension voraus. Ich suche eher nach einem Ausdruck, der etwas mehr Erdverbundenheit enthält.«
    »Dann wurde ich geboren.«
    »Dann wurdest du geboren.«
    Ich stellte sie mir vor, die beiden Blonden; er mit diesem breiten, lachenden Mund, wahrscheinlich vollkommen zugekifft; sie, behaglich in seine Armbeuge gelehnt. »Hat er mich lieb gehabt?«
    Sie lachte, die ironischen Kommas umrahmten ihren Mund. »Er war selbst kaum mehr als ein großes Kind, fürchte ich. Er hat dich so geliebt, wie ein kleiner Junge seine Schildkröte oder eine Autorennbahn liebt. Er konnte dich mit zum Strand nehmen und stundenlang mit dir spielen, hob dich in den Wellen am Ufer hoch und runter. Oder er steckte dich in den Laufstall und ging mit seinen Freunden saufen, wenn er eigentlich babysitten sollte. Eines Tages kam ich nach Hause, und es hatte gebrannt. Seine terpentingetränkten Lappen und Pinsel hatten Feuer gefangen, das Haus stand innerhalb von fünf Minuten in Flammen. Er war

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