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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
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trug das Buch zu einem der Tische, schlug seine weichen, elfenbeinfarbenen Seiten auf, ignorierte die finsteren Blicke der Mädchen in ihren weißen Blusen und karierten Strickpullovern und ließ mich hineinfallen wie in ein Schwimmbecken während eines trockenen Sommers.
    Das Buch trug den Titel »Die Kunst des Überlebens«.
    Jede Religion braucht ihre Bibel, und meine hatte ich nun gefunden, keinen Augenblick zu früh. Ich las das Buch in achtzehn Stunden und fing dann wieder von vorn an. Ich erfuhr, wie ich wochenlang auf dem offenen Meer überleben konnte, sollte mein weißes Kreuzfahrtschiff untergehen. Wenn man Schiffbruch erleidet, muss man Fische fangen, ihren Saft auspressen und trinken. Man saugt den Morgentau mit einem Schwamm vom Kunststoffdeck seiner Rettungsinsel. Wenn man manövrierunfähig auf einem Segelboot dahintreibt, kann man mit den Segeln Regenwasser auffangen. Falls die Segel allerdings verdreckt sind und das Deck eine Salzkruste hat, so legte das Buch dar, ist jegliches Wasser, das man sammelt, wertlos. Man muss stets das Deck sauber halten und die Segel regelmäßig mit Süßwasser spülen; man muss vorbereitet sein.
    Ich betrachtete mein Leben und erkannte ziemlich deutlich, dass ich mich im türkisen Haus nicht ums Überleben bemühte. Ich ließ zu, dass sich eine dicke Salzkruste auf meinen Segeln bildete. Ich musste mit den Messerspielen aufhören und meine Kraft auf den nächsten Regen, auf meine Rettung konzentrieren. Ich beschloss, von nun an täglich spazieren zu gehen, das übertriebene Hinken einzustellen und meine Krücke in den Ruhestand zu schicken. Ich würde mich zusammenreißen.
    Ich saß im Bus auf dem Heimweg von der Schule, der Kopf tat mir weh vom schrillen Gelächter der anderen Kinder, und ich rekapitulierte die grausamen Maßnahmen, die nötig sind, um ein Schiffsunglück zu überleben. Man stellt Angelhaken aus jeglicher Art von gebogenem Metall her, dreht aus den Fasern seiner Kleidung eine Schnur, versieht den Haken mit einem Köder aus Fischstücken oder aus Resten toter Mitpassagiere, ja zur Not sogar mit dem eigenen Fleisch.
    Ich zwang mich, mir vorzustellen, wie ich die scharfe Kante einer leeren Blechbüchse von Überlebensnahrung in meinen Oberschenkel bohrte. Es tat so unglaublich weh, dass ich beinahe das Bewusstsein verlor, doch ich wusste, dass ich die Sache zu Ende bringen musste. Es half nichts, jetzt ohnmächtig zu werden, die Stelle würde bloß zuheilen, und ich müsste es noch mal wiederholen. Also hielt ich so lange durch, bis ich den gelben Wurm in der Hand hielt, blutig und warm. Ich steckte ihn auf einen zurechtgebogenen Streifen der Blechdose und warf ihn an meiner handgedrehten Leine ins Meer.
    Das Gefährlichste ist Panik. Wenn man in Panik verfällt, sieht man nicht mehr, dass es noch Möglichkeiten gibt. Und dann kommt die Verzweiflung. Ein Mann aus Japan war schon vier Tage lang in einem Boot auf dem Meer getrieben, als er in Panik verfiel und sich erhängte. Zwanzig Minuten später wurde er gefunden. Ein Seemann aus Suzhou dagegen hatte einhundertsechzehn Tage auf einer Rettungsinsel zugebracht, ehe er gefunden wurde. Man kann nie wissen, wann die Rettung kommt.
    Und selbst wenn mein Leben jetzt so aussah – Scham, lange Busfahrten, Dieselgestank, die ständige Angst, auf der Madison Junior High School zusammengeschlagen zu werden, Justins Pullover und Caitlins rotes Ekzem –, es gab Leute, die noch viel Schlimmeres überlebt hatten. Verzweiflung war der Feind. Ich musste mich vorbereiten, die Hoffnung zwischen meinen Handflächen halten wie die letzte Streichholzflamme in einer langen arktischen Nacht.
    Wenn ich nicht schlafen konnte, saß ich auf dem Gartentisch im Hof, hörte der Musik aus dem Nachbarhaus zu und stellte mir vor, dass meine Mutter jetzt genau wie ich wach in ihrer Zelle lag. Würde ich sie bei mir haben wollen, wenn ich mit meinem Flugzeug in Papua-Neuguinea oder Pará, Brasilien, abstürzte? Wir würden uns durch ein hundert Meilen breites Labyrinth aus Mangrovensümpfen schlagen, mit Blutegeln bedeckt wie in »African Queen«, vielleicht sogar durchbohrt von dem langen Speer eines Einheimischen. Meine Mutter würde nicht in Panik geraten, den Speer herausziehen und an Blutverlust sterben. Ich wusste, dass sie in der Lage wäre, das Richtige zu tun. Sie würde die Maden an ihrer Wunde fressen lassen, bis das Loch gereinigt war, und dann, nach fünf Tagen oder einer Woche, den Speer herausziehen. Sie würde sogar ein

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