Weisser Oleander
gewiegt hatte, zu der Frauenstimme, die klang wie ein Horn. Es schien unmöglich, dass eine so elegante Frau neben uns wohnen konnte, direkt neben unserem Fünfzig-Zoll-Fernsehbildschirm. Ich hätte mich gern unter ihr Fenster geschlichen und durch eine Ritze zwischen den breiten Holzlamellen gespäht, um zu sehen, was sie dort drinnen tat. Doch ich traute mich nicht. Ich hob eine Hand voll von ihren Jacarandablüten auf und presste sie an mein Gesicht.
Am nächsten Tag stieg ich in der Nachmittagshitze aus dem Schulbus und ging die letzte Meile zu Fuß nach Hause. Ich brauchte die Krücke nicht mehr, doch wenn ich lief, schmerzte mir immer noch die Hüfte, und mein Hinken stellte sich wieder ein. Ich fühlte mich klebrig und linkisch, während ich mich mühsam unsere Straße entlangschleppte; die unbequemen Klamotten aus dem jüdischen Secondhand-Laden – eine weiße Bluse, die auch nach dem Waschen nie weich wurde, und ein missglückter selbstgenähter Rock – scheuerten mir auf der Haut.
Im Schatten vor dem Haus nebenan schnitt unsere elegante Nachbarin gerade ein paar Schmucklilien ab, die dieselbe Farbe hatten wie die Jacarandablüten. Sie war barfuß und trug ein schlichtes Kleid; ihre Fußsohlen und Handinnenflächen waren im Gegensatz zu ihrer karamelbraunen Haut blassrosa. Sie sahen aus wie verziert, so als käme sie aus einem Land, in dem Frauen ihre Hände und Füße in rosafarbenen Puder tauchten. Sie lächelte nicht. Sie war ganz versunken in die Arbeit mit der Gartenschere, schnitt im Halbschatten der Bäume hier einen Rosmarinstengel ab, dort ein Ästchen Minze. Eine abgefallene Jacarandablüte war in ihrem dunklen Haar hängen geblieben, das sie zu einem lässigen Knoten aufgesteckt hatte. Mir gefiel diese eine verirrte Blüte.
Ich fühlte mich plump, schämte mich meines Hinkens und meiner hässlichen Kleider wegen. Ich hoffte, dass sie mich nicht sah und ich ins Haus verschwinden konnte, bevor sie aufschaute. Doch als ich unseren Maschendrahtzaun und den asphaltierten Vorgarten erreicht hatte und sie immer noch nicht in meine Richtung geblickt hatte, war ich enttäuscht. Ich wollte, dass sie mich sah, damit ich ihr sagen konnte, dass ich nicht so war wie die anderen. Sprich mit mir. Schau mich an, dachte ich.
Doch sie blickte nicht herüber, blieb nur stehen und brach ein Steinkrautzweiglein ab, um den Honiggeruch zu riechen. Ich schnitt eine Scheibe von meinem Herzen ab und ließ sie an einem selbstgedrehten Haken vor ihr baumeln.
»Ich mag Ihren Garten!«, rief ich.
Sie blickte verwundert auf, so als hätte sie schon die ganze Zeit gewusst, dass ich da war, aber nicht damit gerechnet, dass ich sie ansprechen würde. Ihre Augen waren groß und mandelförmig, sie hatten die Farbe von dunkler Kräuterlimonade. Sie trug eine dünne Narbe auf der linken Wange und eine goldene Uhr an ihrem schmalen Handgelenk. Sie schob sich eine Strähne ihres gewellten Haares aus dem Gesicht und bedachte mich mit einem kurzen Lächeln, das genauso schnell verschwand, wie es gekommen war. Dann wandte sie sich wieder ihren Lilien zu. »Du lässt dich besser nicht dabei erwischen, wie du mit mir sprichst! Sie wird sonst ein Kreuz auf meinen Rasen brennen!«
»Sie haben doch gar keinen Rasen«, sagte ich.
Sie lächelte, schaute mich aber nicht noch mal an.
»Ich heiße Astrid«, sagte ich.
»Du gehst jetzt besser rein«, sagte sie, »Astrid.«
11
Sie hieß Olivia Johnstone. Dieser Name stand auf den Zeitschriften und Katalogen, die auf ihrem Fußabtreter lagen. Sie hatte den Condé Nast Traveler abonniert und die französische Ausgabe der Vogue, die so dick war wie ein Telefonbuch. Inzwischen hütete ich die Kinder im Vorgarten, um ja nicht zu verpassen, wenn sie mit ihrer Jackie-O-Sonnenbrille das Haus verließ, vom Einkaufen zurückkehrte oder ihre Kräuter schnitt. Ich hoffte, dass sich unsere Blicke noch mal begegnen würden. Beinahe täglich trafen Pakete für sie ein, und der gut aussehende UPS -Mann drückte sich in ihrem Hauseingang herum. Ich fragte mich, ob er in sie verliebt war. Seine Beine ragten wie kräftige Baumstämme unter den UPS -braunen Shorts hervor.
Abends achtete ich vom Küchenfenster aus auf ihre Besucher. Immer nur Männer. Ein Schwarzer, dessen weiße Manschetten sich hell von seiner dunklen Haut abhoben, die goldenen Manschettenknöpfe glänzten. Er fuhr einen schwarzen BMW , erschien gegen halb acht und war bis Mitternacht wieder verschwunden. Ein junger Mann mit Rastafrisur
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