Weisser Schrecken
bleibe dabei«, Schober musterte Eichelhuber misstrauisch. »Das gestern Nacht war nur ein Vorgeschmack. Ein vorsichtiges Tasten. Fragt Joachim und lasst euch gern noch einmal schildern, in welchem Zustand wir Strobel heute Morgen gefunden haben. Offenbar hat dieses Ding gespürt, dass es ihn fürchten muss. Es kommt langsam frei! Und dann Gnade uns Gott!«
»Es ist, wie es ist.« Niklas’ Vater spuckte in den Schnee. »Wir haben immerhin vier von ihnen. Das ist besser als nichts. Also lasst uns anfangen.« Wütend zog er seinen zitternden Sohn auf die Beine. »Bis Mitternacht ist es nur noch wenige Stunden hin.«
»Warum sagt uns keiner, was Sie mit uns vorhaben?«, klagte Elke. Die Köpfe der Erwachsenen ruckten zu ihr herum. Frau Hoeflinger kam langsam auf sie zu. »Ganz einfach: Wir werden euch opfern, Madl.« Elke gab einen erstickten Laut von sich, und Niklas schluchzte laut auf.
»Himmel, hättest du das ihnen nicht schonender beibringen können?«, herrschte Elkes Vater die Frau an.
Die Hoeflinger schnaubte überheblich. »Wirst du jetzt weich? Ihr kleiner Freund da drüben«, sie zeigte auf Robert, der wütend zu ihr aufblickte, »ist uns doch bereits auf die Schliche gekommen. Warum etwas beschönigen, wo es nichts zu beschönigen gibt.«
»Du bist eine kinderlose Hexe! Du hast kein Gefühl.«
»Hüte deine Zunge, Josef! Zumindest ich nehme meine Aufgabe hier in Perchtal sehr ernst. Ich bin eine Wächterin, so wie es meine Mutter war und deren Mutter und meine gesamte weibliche Ahnenlinie zuvor. Besser du besinnst dich ebenfalls der Verantwortung, die dir anvertraut wurde. Unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass die Tradition bewahrt bleibt. So war es schon immer im Perchtal. Und so wird es immer sein. Es gibt keinen anderen Weg. Ein Kind muss sterben, um dafür das Leben aller anderen zu retten.«
»Aber wieso dann wir alle?«, wimmerte Miriam.
»Daran seid ihr selbst schuld.« Die Hoeflinger fixierte sie böse. »Wer auch immer von euch beiden früher Anna war, sie hat es zu verantworten, dass der alte Ritus durcheinander geraten ist.« Niklas’ Vater rollte mit den Augen.
»Welcher alte Ritus?«, fragte Elke. Sie wusste nur zu gut, dass sie selbst einst Anna gewesen war. »Was meinen Sie damit?«
Die Erwachsenen schwiegen unheilvoll. Elkes Vater drehte sich mit hängenden Schultern zu den anderen um. »In Gottes Namen«, flehte er. »Lasst die Kinder nicht unwissend sterben. Sie sollen wenigstens erfahren, wofür ihr Opfer gut ist.«
Bürgermeister Schober wechselte kurze Blicke mit den Erwachsenen. »Meinetwegen. Unsere Vorfahren wurden schon vor langer Zeit auserwählt, einen Schrecken hier im Perchtal in Schach zu halten, dessen Hunger auf Kinderfleisch unersättlich ist.«
»Den Teufel!«, korrigierte ihn Elkes Vater und bekreuzigte sich. Schober musterte ihn und wechselte dann einen unmerklichen Blick mit den anderen Erwachsenen. »Nur ein junger Mensch alle sechzehn Jahre kann seinen Hunger stillen. Er muss es hier aus Perchtal stammen. Nach altem Brauch entscheidet stets das Orakellos darüber, welcher Jugendliche dazu ausersehen ist.«
»Eine verdammte Lotterie?« Robert sah ihn fassungslos an.
»Ein Orakellos«, fuhr Schober ungerührt fort. »Denn ein Los ist unbestechlich. Ein Opfer ist nämlich nur dann ein Opfer, wenn es jeden treffen kann. Auch uns selbst. Und das tut es. Immer wieder. Zuletzt hat es meine eigene Familie erwischt. 1914. Damals bestimmte das Los unter all den Jugendlichen im Ort den Bruder meines Vaters.« Schober ballte die Faust. »Uns obliegt die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass es zu keinen Unregelmäßigkeiten kommt. Wir kontrollieren uns sogar gegenseitig.« Er beäugte Elkes Vater. »1978 hat das Los Anna Bierbichler bestimmt, die Tochter Josefs. Damals dachten wir noch, dass er Glück im Unglück habe, denn das Schicksal hatte ihm ja zwei Töchter geschenkt.« Der Bürgermeister wandte sich nun wieder Elke und Miriam zu. »Anna sollte den Opfergang allein antreten. So, wie es Brauch ist. Unser damaliger Pfarrer hat versucht, sie vorsichtig auf den Abend der Entscheidung vorzubereiten, doch Anna scheint misstrauisch geworden zu sein. Sie redete darüber mit ihren Freunden … mit euch! Strobel nahm euch fünf dann allesamt in den Wald mit – entgegen unseren Empfehlungen.« Elke warf Miriam einen überraschten Blick zu, doch diese senkte den Kopf. War es das, was sie bei dieser Rückführung erfahren hatte? »Was dann geschah, wissen wir leider
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