Weisser Schrecken
Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser. Er erquicket meine Seele …«
Elke indes sah ihn mit einem Gesichtsausdruck an, aus dem jeder Lebensmut gewichen war. Nur Robert war noch immer mit sich selbst beschäftigt. Hin und wieder hustete er, und er legte etwas Schnee auf den Außenballen seiner linken Hand. Andreas sah, dass dort eine dicke Brandblase prangte.
»Sieht so aus, als hätten wir es geschafft«, krächzte er und versuchte sich an einem aufbauenden Lächeln. Vor ihnen stürzte das Schuppendach in sich zusammen, und rote Glut stob zum Himmel auf. Vorsichtshalber rückte er etwas weiter von dem Brandherd ab.
»Was haben wir geschafft?«, keuchte Elke verbittert. »Unsere Leben zu retten? Anders als … damals?« Andreas schwieg. Auch er hatte noch nicht vergessen, was sie vorhin in der Hütte entdeckt hatten. Und ehrlich gesagt, war er fast froh darüber gewesen, dass er eine Weile nicht über die unheimliche Schlussfolgerung hatte nachdenken müssen. Doch das, was sie eben überstanden hatten, war sogar noch viel unheimlicher als die Möglichkeit, an so etwas wie Wiedergeburt zu glauben. Obwohl, konnten sie denn allein wegen dieser verdammten Ähnlichkeit zu ihren verschwundenen Geschwistern auf so eine ungeheuerliche Sache schließen?
»Alles, was wir geschafft haben«, fuhr Elke fort, »ist, dass wir die Aufmerksamkeit irgendeiner teuflischen Macht auf uns gezogen haben. Oder habt ihr eine andere Erklärung für das, was uns eben da drinnen im Schuppen angegriffen hat?«
»Nein, habe ich nicht.« Andreas erhob sich ächzend vom kalten Untergrund.
»Aber das alles kann doch trotzdem nicht wahr sein! Wiedergeburt … teuflische Mächte … Fangen wir jetzt an, vollkommen irre zu werden?«
»Du hältst mich für irre?« Elke richtete sich leicht auf, und ihre Augen funkelten herausfordernd. »Also hast du für all das etwa eine bessere Erklärung? Na, dann lass doch mal hören.« Andreas sah sie überrumpelt an. »Nein, natürlich halte ich dich nicht für irre. Aber … Mein Gott, mit etwas Logik finden wir vielleicht eine plausible Erklärung für, na ja …«
»Für diese Eiszapfen, die in Sekundenschnelle von der Decke gewachsen sind?«, höhnte Elke. Sie war aufgesprungen und hatte die Fäuste geballt. »Oder etwa für diese widerlichen Schneeschlangen, die aus den Wänden gekrabbelt kamen? Oder gar für die Weihnachtslieder aus dem Radio? Oder meinst du die Sache mit unseren Geschwistern? Vielleicht willst du uns jetzt ja auch noch weismachen, dass es ganz normal sei, wenn die älteren Geschwister alle genau ein Jahr vor der eigenen Geburt verschwinden und man ihnen dann bis in die Haarspitzen gleicht. Hörst du dir eigentlich selbst mal zu? Wenn du dir schon etwas einreden willst, dann zieh uns da nicht mit rein. Denn solange du mir außer einem bekloppten ›Na ja‹ keine auch nur annähernd logische Erklärung für all das lieferst, bleibe ich dabei. Wir haben es hier mit einer übernatürlichen Macht zu tun: Und was vielleicht noch viel wichtiger ist …« Sie machte einen Schritt auf ihn zu, und ihre Stimme nahm einen beschwörenden Unterton an. »Du wirst mich nicht davon abbringen, dass wir fünf wiedergeboren wurden. Ich fühle es nämlich, hier drinnen.« Sie legte die Hand aufs Herz.
»Beruhige dich! Ist ja gut.« Andreas beschrieb eine besänftigende Geste. Er wollte nicht mit Elke streiten. Außerdem kam er nicht umhin, ihr recht zu geben. Ob ihm das nun passte oder nicht, in den letzten Stunden waren einfach ein paar seltsame Dinge zu viel geschehen.
»Aber egal, was das eben war, ich für meinen Teil habe nicht vor, einfach klein beizugeben. Es ist fort.« Er musterte misstrauisch die Umgebung, doch es blieb ruhig. »Oder spürt ihr hier noch irgendetwas von dem, was uns eben in der Hütte … angegriffen hat?«
Elke wollte etwas sagen, doch sie schwieg. Robert stieß einen verächtlichen Laut aus. »Und? Was jetzt?« Er stach sich die Brandblase mit der Spitze eines kleinen Zweigs auf und verzog schmerzhaft das Gesicht. »Wollen wir uns jetzt mit übernatürlichen Mächten anlegen?«
»Die Frage ist doch, warum uns allen ein zweites Leben geschenkt wurde?«, mischte sich Miriam unerwartet gefasst ein. »Vielleicht hat Gott uns bestimmt, dass wir gegen diese Mächte hier in Perchtal antreten?«
»Weißt du was, Miriam?« Robert erhob sich wütend. »Ich scheiß auf deinen Gott. Wenn es deinen
Weitere Kostenlose Bücher