Weißes Gift im Nachtexpreß
Telefon. Wieder mußte er den Notarzt alarmieren. Die Leitstelle
erklärte, eine Ambulanz mache sich sofort auf den Weg. Dann rief Tim bei Kommissar
Glockner an. Nicht im Präsidium, sondern zu Hause, wo er gerade eingetroffen
war und sich vermutlich einstellte auf Feierabend.
„Ich verständige die Kollegen“,
erwiderte der Kommissar. „Aber ich komme auch selbst.“
Tim legte auf.
In der Eingangsdiele hatten sich Sauerlich
und zwei Drittel der Familie Streiwitz eingefunden, nämlich Elke und Dieter.
Klößchen berichtete zum zweiten Mal,
und Landers Hinterkopfverletzung nahm immer schrecklichere Ausmaße an.
Tim lief ins Gäste-Klo und schnappte
sich zwei saubere Handtücher. Klar, daß man sich um Landers kümmern mußte, wie
mies der auch sein mochte.
Der TKKG-Häuptling lief zur Haustür, an
den Streiwitzens vorbei. Dabei bemerkte er: Elkes Gesicht war weiß wie frisch
gefallener Schnee; Dieter hatte den Mund zwar geöffnet, konnte aber nicht
verhindern, daß seine Zähne aufeinanderschlugen. Es hörte sich an, als würde
jemand würfeln.
„Dieter“, Elkes Stimme wimmerte und war
fast geflüstert, doch Tim, der hinter den beiden vorbeilief, verstand. „Mein
Gott, Dieter! Was hat Papa da gemacht?“
Wieso Papa? dachte Tim und sauste durch
die Haustür hinaus. Meint sie ihren Manfred? Überhaupt: Wo ist der?
Aber an dem Gedanken hielt er sich
nicht fest, sondern leistete ganz vorsichtig Erste Hilfe bei Landers.
Viel ließ sich freilich nicht tun als
Laie. Tim sorgte lediglich für vorschriftsmäßige Seitlage, damit der Bewußtlose
nicht an der eigenen Zunge oder an Erbrochenem erstickte. Ein Tuch schob Tim
ihm unters Gesicht. Mit dem anderen deckte er die Wunde ab.
Dann hieß es warten und wachen. Tim
fühlte den Puls. Der wurde schwächer. Um Himmels willen! Wo blieb der Arzt?
Erst zwei Minuten waren vergangen. Sauerlich
und Klößchen kamen im Schweinsgalopp. Der Schoko-Fabrikant brachte eine Decke
mit. Aber die wurde nicht benötigt. Landers Nerzmantel war kälte-abweisend
genug.
„Das sieht aus wie ein Raubüberfall“,
meinte Klößchens Vater. „Furchtbar! Und das in unserer Gegend. Die Zeiten
werden wirklich immer schlimmer. Nein, nicht die Zeiten — die Menschen sind’s,
die Menschen!“
„Ja“, nickte Tim. „Scheint ein Trend zu
sein.“
Ihm war unbehaglich. Gewalt ist
erschütternd für jeden, der Zeuge wird, dachte Tim. Gewalt gegen Menschen,
Gewalt gegen Tiere, Gewalt gegen die Natur. Und kein Ende ist abzusehen.
Wieder prüfte Tim Landers Puls. Sehr
schwach. Was tun? Herzmassage? Atemspende? War es ratsam, den Schwerverletzten
zu bewegen?
Zum Glück wurden Tim und sein Gewissen
von der Entscheidung befreit, denn eine Sirene heulte heran, und der
Notarztwagen — ein großer — hielt draußen vor dem Haus.
Licht brannte, also hatten Arzt und
Sanitäter vollen Überblick. Im Laufschritt heran mit der Trage. Tim und die Sauerlichs
wurden abgelöst.
Während die Mediziner sich ins Geschirr
legten, gingen die drei zurück, aufgewühlt und niedergedrückt zugleich. Würde Landers
überleben?
Kaum daß sie im Haus waren, traf
Kommissar Glockner ein. Ohne Gaby. Auch seine Kripo-Kollegen waren im Anflug,
hatten aber vom Präsidium einen längeren Weg.
Bevor Tim berichten konnte, sprach Glockner
mit dem Notarzt. Landers befand sich im Wagen, wurde versorgt, war
angeschlossen an Tropf und Sauerstoffgerät, mit dem man ihn beatmete. Dann fuhr
der Wagen ab, mit Sirene und Blaulicht.
Glockner kam zurück.
„Der Schädelknochen wurde zertrümmert.“
In der Eingangsdiele herrschte
Schweigen, alle waren betroffen.
Tim sah die Streiwitzens an. Was war
los mit ihnen? Sie bemühten sich um Gelassenheit, aber pures Entsetzen quoll
aus allen Knopflöchern.
Auch jetzt war Manfred, der Vater,
nicht da.
„Bei Dr. Landers“, sagte Glockner,
„wurden weder Uhr, noch Hausschlüssel noch Brieftasche gefunden. Vermutlich hat
der Täter ihn beraubt. Daß er ins Haus eingedrungen ist, halte ich allerdings
für unwahrscheinlich. Dann hätte er den Bewußtlosen beiseite geschleift und
nicht liegengelassen — sichtbar für jeden, der vorbeikommt.“
„Be... beraubt?“ fragte Elke mit
zitternder Stimme.
Glockner nickte. „Aber das will nichts
heißen. Manchmal wird Raub als Motiv vorgetäuscht, um was anderes zu
vertuschen. Rache, zum Beispiel.“
Der Frau versagten die Beine. Sie sank
auf einen Sessel.
Verwundert überlegte Tim: Was hatte sie
gemeint mit ihrer Bemerkung vorhin?
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