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Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Titel: Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Theroux
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jeden von uns konnte der Moment kommen, wenn wir diesen Gefallen würden einlösen müssen.
    Am schlimmsten erwischte es die Baracken Ende Januar. Schon frühmorgens beim Melken war ich ziemlich wacklig auf den Beinen. Die anderen Männer in meinem Trupp brachten mir einen Stuhl, damit ich mich ausruhen konnte, und ich begann, unter den fast wohligen Schauern des Fiebers heftig zu zittern. Ja, ich stand derart neben mir, dass ich nicht Billy Erasmus, Chingiz oder Gosha zusah, wie sie Eimer trugen, sondern meiner Mutter und Charlo und Anna, wie sie das Weihnachtsessen zubereiteten.
Dann flammte das Licht im Kuhstall, das eigentlich schwach und wässrig war, auf wie eine gelbe Fackel, und eine brüllende Hitze hüllte mich ein.
    Gosha lächelte mich an. »Makepeace fliegt! Sie hat getrunken. Schaut mal, ihre Augen!«
    Ich konnte nichts erwidern, weil es um mich herum ohrenbetäubend dröhnte, und ich erkannte dieses Dröhnen: Da kam ein weiteres Flugzeug. Ich stand auf, um den anderen zu sagen, dass wir alle gerettet waren, und während ich das tat, wurde das gelbe Licht gleißend und schmolz zu einem Stern.
    Gosha erzählte mir später, dass ich plötzlich leichenblass geworden war und umgefallen bin – so hart, dass die Wände des Stalls zitterten. Ich weiß nur noch, wie alles dunkel wurde und ich mir Sorgen machte, was wohl aus dem ganzen Brot werden würde, das ich versteckt hatte.
     
    Schweißgebadet kam ich im Lazarett wieder zu mir. Es war dunkel und roch wie in einer Metzgerei. Es gab keine Wachen, und auch sonst arbeitete dort niemand, weil der Ort so entsetzlich war – die Kranken wurden mehr oder weniger sich selbst überlassen. Sobald ich wieder einigermaßen stehen konnte, machte ich, dass ich wegkam.
    Sie nahmen mir die Schuhe ab, um mich vom Arbeiten abzuhalten, und so stolperte ich am nächsten
Morgen eben barfuß in den Schnee hinaus. Da sah mich Boathwaite. Er sagte den Wachen, dass man mir meine Schuhe wiedergeben solle. Ich war zu fiebrig, um sie selbst zu schnüren, eine meiner Zehen war gefroren, und wenn ich lief, fühlte es sich an, als ob sich meine Glieder nicht richtig bewegten, sondern vorwärtsruckten und -zuckten, als wäre da ein Uhrwerk in mir.
    Die Wachen führten mich wieder hinaus, und ich sagte, ich sei gesund genug zum Arbeiten, aber sie brachten mich ohnehin nicht zurück ins Lazarett, sondern in Boathwaites Büro.
     
    Er hatte sich für den Winter einen riesigen Ofen zugelegt, dessen Rohr aus einem zerbrochenen Fenster stach. Der Ofen füllte den Raum mit einer drückenden Hitze, trotzdem zitterte ich so sehr, dass meine Stimme wie die eines Lammes klang und ich meine Zähne klappern hörte.
    Boathwaite, eine der Wachen, die mit mir hereingekommen war, und ich standen neben dem Schreibtisch.
    »Offenbar bist du fest entschlossen, zu arbeiten«, sagte Boathwaite.
    »Ja, Sir.« Ich versuchte, ihn in der Horizontalen zu halten, während alles andere im Zimmer um seinen Kopf herum tanzte.

    »Aber du bist krank.«
    »Nichts allzu Ernstes.«
    »Deine Winterkleidung, was ist mit der passiert?«
    »Spielschulden.«
    Boathwaite zwinkerte der Wache zu. »Hab schon gehört, dass du mit den Karten nicht gerade gut bist.« Seine Stimme hallte zu mir herab, als würde ich ihm vom Grund eines Brunnens aus zuhören. »Im Lazarett sollst du rumerzählt haben, dass dich ein Flugzeug abholen kommt. Willst du hier wegfliegen? «
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Hast du überhaupt schon einmal ein Flugzeug gesehen, Makepeace?«
    »Nein, Sir. Da muss ich fantasiert haben.« Hatten sie meine Brotverstecke gefunden? Oder hatte ich meine Fluchtpläne ausposaunt? In diesem Fall würden sie mich bestimmt töten.
    »Du stammst aus dem Norden, nicht wahr?«
    »Eigentlich aus Amerika.«
    »Siedlerfamilie?«
    Ich nickte.
    »Man sagt, die Siedler aus dem Norden seien härter als gefrorener Mammutmist.«
    Die Wache gackerte.
    Ich bemühte mich, meinen Kopf gerade zu halten. »Keine Ahnung, Sir.«

    »Scheint mir aber zu stimmen. Geh dich ausruhen! « Boathwaite nickte der Wache zu.
    Ich war viel zu müde, um mit ihm in den Clinch zu gehen. Ich verstand ja kaum, was vor sich ging.
    Jedenfalls schleppten sie mich runter in die Werkstatt und befreiten mich von meinen Ketten.

DRITTER TEIL

1
    ES DAUERTE EINIGE TAGE, bis die Veränderung in meinem Leben Sinn ergab.
    Zum ersten Mal in beinahe drei Jahren hatte ich ein Zimmer allein für mich. Mein neues Quartier hatte ein ausklappbares Bett mit einer fleckigen

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