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Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Titel: Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Theroux
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wirkte immer
mehr wie ein gebrochener Mann. Damals auf dem Dach hatte ich wohl einen kurzen Blick auf jenen Shamsudin erhascht, der er hätte sein können. Die meisten der Gefangenen fügten sich in das Leben im Lager, als hätten sie nie ein anderes gekannt – und vielleicht hatten sie das ja auch nicht oder sie hatten nur ein noch Schlimmeres gekannt –, doch Shamsudin hatte sich einen kleinen Rest an Würde bewahrt, wie ein verblassender Duft der Welt, aus der er stammte.
    Ich hatte das Gefühl, dass man einen Mann wie ihn in der Zone willkommen heißen würde. Zuerst würde man ihm wohl niedere Arbeiten geben, aber bald würde man seinen Wert erkennen: ein Mann von Welt, der etliche Fremdsprachen sprach und den Namen jedes Muskels im menschlichen Körper kannte. Menschen wie mich gab es hier wie Sand am Meer: wortkarge Sturköpfe, die sich zur Not ihr Essen aus der Tundra buddeln konnten. Shamsudin aber hatte ein Wissen, das man nur aus Büchern erhalten konnte. Keine Ahnung, wie nützlich das alles war. Ja, manchmal schien es ein wenig seltsam, wie wenn einer der Gefangenen eine Seidenkrawatte um den Hals tragen würde. Doch was er wusste, war über die Jahrhunderte zusammengetragen worden, und es war wertvoll genug, dass dafür Blut vergossen worden war. Tausend Jahre Forschung, damit er
diese Dinge wusste – tausend Jahre Forschung und Experimente und Menschen, die den Tod in Kauf genommen hatten, nur um sagen zu können, dass die Erde um die Sonne kreiste und nicht andersrum. Und ging dieses Wissen verloren, würde es wieder tausend Jahre dauern, es von neuem zu lernen.
    Und so machte es mich traurig, mit anzusehen, wie Shamsudin immer schwächer wurde, und ich wünschte, ich könnte ihn hier irgendwie rausbringen. Er schien sich immer mehr in sich selbst zurückzuziehen und verbrachte immer weniger Zeit mit den anderen Moslems. Er erinnerte mich an diese Bücher, die ich damals in der Waffenkammer versteckt hatte. Nur dass ein Mensch immer besser war als ein Buch.
    Wie viel Gutes ich doch tun könnte, wenn ich nur einen Weg fände, Shamsudin mit den Leuten zusammenzubringen, die das Flugzeug gebaut hatten!
    Aber so wie es aussah, hatte er höchstens noch zwei Jahre zu leben, vielleicht weniger. Über kurz oder lang würde er auf jener Lichtung enden, auf die sie auch Tuvik gebracht hatten.
    Jeden Herbst, bevor der Boden zufror, führten die Wachen ein halbes Dutzend Gefangene in den Wald und ließen sie dort ein tiefes Loch graben, und wenn es dann taute, führte man sie ein zweites Mal raus, um die fünfzehn oder zwanzig Leichen, die man über
den Winter dort abgeladen hatte, mit Erde zu bedecken. Es gab keinerlei Zeremonie oder auch nur ein Gebet – die Wachen steckten die Leiche einfach in einen Sack, schoben sie auf einem Karren in den Wald, warfen sie in das Loch und streuten Kalkstaub darüber, wo sie dann unbedeckt lag, bis die nächste kam.
    Hörte ich in mich hinein, so war es, als fühlte ich eine Verpflichtung, mich Shamsudin gegenüber anständig zu verhalten. Natürlich gibt es für alles immer einen Grund und einen Grund für den Grund, aber wenn man zu tief bohrt, stolpert man am Ende nur über sich selbst. Wenn ich heute darüber nachdenke, wird mir klar, dass ich etwas für Shamsudin empfand, weil er seit Ping der erste Mensch gewesen war, der mir ein Quentchen Freundlichkeit entgegengebracht hatte. Und weil er etwas an sich hatte, das mich an meinen Vater erinnerte, ja, fast schien es, als versuchte ich, die Zeit zurückzudrehen und Pa zu retten. Aber wenn ich auch das hinterfrage, stoße ich auf einen ganz einfachen Grund: Seit Ping hatte ich verlernt, allein zu sein.
    Als ich ein Kind war, warnte man uns vor einem alten Mann in den Wäldern, der dort ganz allein lebte, viele Meilen von der nächsten Siedlung entfernt. Er hieß Pankov, war Russe und schnitzte große Holzfiguren, die er um seine Hütte herum aufstellte. Immer
wieder schlichen wir uns zu ihm heraus, um ihn bei seinem Treiben zu beobachten, und immer wieder schrie und verjagte er uns, wenn er uns erwischte. Für uns Kinder war das wie Sport. »Der Alte ist doch völlig verrückt«, sagte mein Vater und gab uns einen Klaps mit dem Pantoffel, wenn Charlo ausplauderte, dass wir wieder im Wald gewesen waren.
    Pankov starb, als ich zwölf war, und einige der Ältesten aus unserer Stadt begruben ihn im Wald. Die Hütte, in der er so lange gelebt hatte, verfiel jedes Jahr ein bisschen mehr, bis sie schließlich ganz in sich

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